Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
vergessen, die wie Fesseln schwer an Helves Armen hingen. So viele Jahre hatte sie davon geträumt, Hohepriesterin zu sein, aber nie erkannt, wie sehr sie ihre Freiheit liebte.
»Ist das wichtig, solange wir keinen Ort haben, an dem wir unsere Zeremonien abhalten können?«, fragte Brigomaglos. »Und bis wir einen gefunden haben, hat sich das Mädchen erholt. Wenn sie diese Marter überlebt und fähig ist, die Macht der Göttin zu tragen, dann wird sich Helves Wille erfüllen. Wenn nicht – werden wir neu wählen.«
Einige der anderen stimmten zu. Ardanos sah Lhiannon an, als wolle er etwas sagen, aber sie schüttelte den Kopf. Gut möglich, dass sie es irgendwann bedauern würde, wie viel Macht die Priester für sich in Anspruch nahmen, aber im Augenblick konnte ihr das nur recht sein. Erkannten sie denn nicht, dass jetzt alles vom Aufstand der Icener abhing? Sie jedenfalls hatte Coventas Vision verstanden. Boudicca trug die Macht der Morrigan in sich. Sollte Boudicca ihr Ziel erreichen, dann würde niemand mehr die Macht der Priesterinnen infrage stellen. Aber sollte sie scheitern, dann war alle Hoffnung dahin.
SECHSUNDZWANZIG
Boudicca lachte, hielt sich mit einer Hand fest, als der Streitwagen unter ihr holperte, und fuchtelte mit der anderen wild mit dem Speer. Es war ein alter Speer, einer von vielen, den sie nach dem Angriff auf Colonia mitgenommen hatten. Die Lederverzierungen waren zwar stark erneuerungsbedürftig, aber eine anregende Erinnerung an vergangene Ruhmestaten.
Tascio, ihr Wagenlenker, duckte sich fluchend und riss die Köpfe der Pferde mit einem Ruck herum, um Riganas Streitwagen auszuweichen, was Boudicca auf die Seite warf. Einen festen Stand zu finden war schwierig – direkt vor ihr saß Tascio auf dem flachen Trittbrett, und zur Seite hin klemmten Schild und Speere am Weidegeflecht des Wagenrahmens, sodass kaum Platz blieb zu stehen.
Die Menge jubelte, als sie im leichten Galopp umherritten. Der Anblick eines Streitwagens rief die Erinnerung an alte Triumphe wach – Grund genug, um für die Radkränze neues Eisen zu biegen und die Lederbespannungen zu erneuern. Auf einem Streitwagen daherzukommen betonte Boudiccas Rolle als Kriegsführerin. Einen der restaurierten Wagen hatte sie ihrer älteren Tochter überlassen, allerdings nur unter der Maßgabe, dass Calgac, der Wagenlenker, sie beim ersten Anzeichen einer echten Gefahr sofort in Sicherheit brachte. Doch bevor sie den Umgang mit den Wagen nicht sicher beherrschten, würden sie auch nicht in einer Schlacht zum Einsatz kommen.
Boudicca beneidete Rigana um ihre Gelenkigkeit, als sie an ihr vorbeipreschte. Sie war zwar durch ständiges Laufen und Reiten ganz gut in Form, doch mit der Wendigkeit einer Fünfzehnjährigen konnte sie nicht mithalten.
»Gleichgewicht halten! Nicht festhalten!«, rief Tingetorix. Sein verletztes Bein hielt ihn ans Pferd gefesselt, doch den anderen zurufen, was sie falsch machten, konnte er allemal.
Die Ledergurte, an denen das schwankende Holztrittbrett aufgehängt war, knarzten und quietschten, während die Räder über den unebenen Boden dahinbretterten. Bis her hatte Boudicca nur schwankende Boote erlebt, doch das hier war weit schlimmer – sie fühlte sich, als bebten Sumpflöcher unter ihren Füßen. Als sie beim nächsten Schlenker gegen den Querrahmen flog, konnte sie Cathubodva lachen hören. Die Göttin tanzte auf diesem wilden Ritt wie ihre Raben auf dem Wind. Der Mensch Boudicca jedoch fand festen Halt nur auf festem Boden. So verlockend es auch war, der Göttin die Zügel zu überlassen, sie wusste aus der Erfahrung, dass kräftige Muskeln ihr als Reiterin sehr zugutekamen.
Als kleines Mädchen hatte sie es geliebt, ihren älteren Brüdern bei den Übungsstunden mit den Streitwagen zuzusehen. Dubi war sogar auf der Achse bis zum Gabelgelenk gelaufen, an welches die beiden Pferde gespannt waren, hatte den Speer geworfen, sich umgedreht und war zurückgerannt. Und dabei hatte er meist auch noch das Ziel getroffen. Einen Treffer zu landen war in einer Schlacht nicht die große Schwierigkeit – solange man ein Geschoss in die richtige Richtung abfeuerte, traf es zwangsläufig irgendwen.
Tascio drehte den Wagen, und für einen kurzen Augenblick gelang es ihr, sich auf den Fußballen zu halten, egal, in welche Richtung das Trittbrett gerade sprang. Doch dann spürte sie einen plötzlichen Krampf im Bein.
»Aauu …«, keuchte sie, als sie den Wurfspeer zurück in die Halterung schob und sich
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