Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
Die Begräbnisse waren drei Tage her, doch noch immer hing über Oakhalls starker Brandgeruch. Erst als sie ein gutes Stück draußen auf dem Wasser waren, war auch der letzte Hauch davon mit dem frischen Seewind verflogen, und Lhiannon bemerkte, wie sehr sie inzwischen an den Gestank gewöhnt gewesen war. Selbst Coventa schien aufzuleben, obwohl ihr am Morgen noch speiübel gewesen war.
Aber erging es ihr wesentlich besser? Die blauroten Berge jenseits der Küstenlinie glitten vorbei wie im Traum. Das Meer glitzerte in der hellen Luft, und der Himmel war eine einzige blaue Wohltat. In alten Tagen hätte Lhiannon gesagt, dass die Götter die Reise gesegnet hätten, aber gegenwärtig tat sie sich schwer zu glauben, dass ihnen überhaupt etwas daran lag.
»Ich wünschte, wir könnten für immer auf dem Meer sein …«, murmelte Coventa, »… zwischen den Welten.« Sie war noch immer still und blass, und die Visionen kamen jetzt nur nachts, als Träume. »Niemand weiß, wo wir sind … niemand kann uns erzählen, was wir zu tun haben. Ich dachte, man hätte dich verbannt, und war ganz traurig, dass du nicht mit uns in Sicherheit bleiben konntest. Aber ich fange langsam an zu erkennen, warum du so lange Zeit fort von uns verbracht hast.«
»Das war nicht nur eine angenehme Zeit«, bemerkte Lhiannon. »Ich litt oft Hunger, fror oder war in Gefahr, aber es stimmt schon – ich hatte nicht auf Schritt und Tritt die Druiden um mich, die mir sagten, was ich zu tun hätte.«
»Ich war sehr naiv«, sagte Coventa ruhig. »Ich war wie ein wilder Vogel, der gefangen in einem Käfig aufgezogen wurde, und als die Tür zur Freiheit aufging, wusste ich nicht, wie man fliegt. Ich bin nicht vorbereitet auf diese neue Welt, in die wir jetzt hineingezwungen werden. Aber du bist es, Lhiannon. Ich hoffe, du wirst dich nicht von Ardanos wieder einfangen und in einen Käfig stecken lassen. Er hat Angst – und da hat er vielleicht auch recht –, die Welt könnte noch viel böser sein, als ich mir das je vorgestellt hätte. Sollte es jemals wieder einen Ort geben, an dem unsere Priesterinnen zusammen leben können, dann wird er ihn wohl zu einer Festung machen.«
Ardanos würde nie … Doch ihr Gedanke riss ab. Dem Ardanos, den sie geliebt hatte, wäre nie und nimmer eingefallen, mit so harter Hand zu herrschen, aber die Römer hatten seine Seele verändert.
»Die Welt folgt ihrem eigenen Lauf, sie gehorcht nicht unserem Willen«, führ Coventa fort. »Wir können nichts tun, außer zu versuchen, den Göttern zu dienen.«
»Ja, den Göttern! Wenn ich glaubte, dass all dies nach ihrem Willen war, dann würde ich sie verfluchen …« Lhiannon stockte jäh, als ihr mit einem Mal bewusst wurde, wie lange sie ihre innere Verzweiflung unterdrückt hatte. »Entweder sie hassen uns, oder sie haben keine Macht – so wie die Dinge liegen. Alles, was wir getan haben, um sie günstig zu stimmen, hat es nur noch schlimmer gemacht – soweit ich das sehen kann …«
Ihre Stimme klang zwar weich, aber Coventa sah sie bestürzt und zugleich überrascht an. Ich bin Priesterin, sagte sie sich. Und als solche sollte ich den Glauben hochhalten … Das jedenfalls hatte sie stets getan, seit dem Tag, da man ihr die Sichel der Göttin zwischen die Augen auf die Stirn tätowiert hatte.
»Was willst du von mir hören?« Die Worte platzten unwillkürlich aus ihr heraus. »Soll ich dir erzählen, dass alles wieder gut werden wird? Das wird es nicht! Nicht …«
Ihre Kehle schmerzte so sehr, dass sie kein Wort mehr hervorbrachte. Während all der Zeit des Krieges und Unheils war sie viel zu beschäftigt gewesen mit der Not ringsum, dass sie kaum darüber nachgedacht hatte, wie verwickelt die ganze Lage war … Aber nun, auf diesem sonnenbeschienenen Meer, hatte sie jegliche inneren Schutzwehre abgebaut und war verloren. Sie schlug die Hände vors Gesicht und wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt.
Nach einer halben Ewigkeit, wie es ihr schien, spürte sie weiche Arme sie umschlingen. Coventa hielt sie fest, wiegte sie, so wie das Meer das Schiff wiegte. Und sogleich versiegten ihre Tränen.
»Danke«, flüsterte sie. »Ich habe aufgehört …« Auch sie drückte Coventa ganz fest und merkte, wie sie sich entspannte. Für sie aber war die Heiterkeit des Tages gewichen.
Lhiannon verstand nun, warum einige Druiden sich in die Einöde zurückziehen, um in der Natur, fernab in einer Höhle an einer heiligen Quelle, ihr Dasein zu fristen. Obgleich der
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