Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
…«
Lhiannon hielt an und spürte ein Kribbeln, als sie die Macht gewahrte, welche die Gestalt am Fluss verströmte, und den großen Hund erblickte.
Als Crispus sie gebeten hatte, nach Boudicca zu suchen, hatte Lhiannon sich gefragt, ob die Macht wohl Boudiccas Wille eingenommen hatte. Wenn dem so ist, dachte sie nun, dann ist die Macht, dann ist der Wille nicht ihr eigener. Die Gestalt vor ihr erhob sich über die Sterblichen, war umgeben von einem Licht, das nicht von den Sternen kam. In den bleichen Farben der Nacht floss ihr Haar in schattigen Wellen herab, und unter den geschlossenen Lidern quoll ein Strom von Tränen hervor.
Die Priesterin seufzte tief, zwang sich, ihrer Stimme einen ruhigen Klang zu geben. »Große Königin – die Nacht zieht vorüber, und der Körper, den du trägst, muss ruhen.«
Die Göttin drehte sich um, öffnete die Augen, in denen ein Schmerz stand, der älter war als die Welt.
»Du hast so wenig Zeit und noch so viel zu lernen …«
Lhiannon hätte ihr gern so viele Fragen gestellt, hielt sich aber zurück.
»Ja, keine Zeit«, stimmte sie zu. »Denn die Frau muss Ruhe finden und schlafen. Im Namen des Dagdevos, Herrin, lass sie gehen.«
Eine Weile lang herrschte bedächtige Stille, dann erhellte ein Lächeln die stille Gestalt: »Im Namen dessen, der all diejenigen liebt, die Boudicca lieben, ich werde …« Und noch einmal schloss sie die Augen, doch ihr Gesicht wandelte sich, als der Energiestrom versiegte.
Lhiannon stützte Boudicca, als deren Glieder erschlafften, sie taumelte und ins Gras sank. Seit sie ihr das letzte Mal begegnet war, war Boudicca viel kräftiger und muskulöser geworden.
»Lhiannon …« Boudicca rappelte sich hoch. »Ich habe geträumt, dass du kommst …« Sie blickte sich verwirrt um, während Bogle fröhlich jaulte und ihre Hand beschnüffelte. »Oder ist das nur ein Traum?«
»Das«, sagte die Priesterin mit einer Schärfe, die der Erleichterung entsprang, »ist der Vorabend der Schlacht, und wir gehören alle ins Bett.«
»Da war eine Frau – sie wusch blutige Kleider …«
»Ich weiß, wer dir hier begegnet ist«, sagte Lhiannon ernst und seufzte. »Glaubst du, du kannst wieder gehen, oder soll ich ein paar Männer rufen, damit sie dich stützen?«
»Wenn der Morgen anbricht, werden wir kämpfen«, fuhr Boudicca fort, als hätte sie nicht zugehört. »Pass auf meine Töchter auf, Lhiannon. Sieh zu, dass sie stets in Sicherheit sind!«
»Ja, Boudicca …« Wenn ich das kann …
Boudicca schöpfte Atem und sah die Priesterin zum ersten Mal richtig an. »Oh, Lhiannon, den Göttern sei Dank, dass du da bist! Wie oft hätte ich dich schon gebraucht!« Sie drehte sich um, weinte, und Lhiannon schloss sie in die Arme.
NEUNUNDZWANZIG
Die Götter schenkten ihnen einen lieblichen Morgen. Die Sonne stand strahlend am klaren Himmel, und die Mohnblumen leuchteten wie Blutflecken zwischen dem Gold der ährenreichen Felder. Auf der Ebene zwischen Fluss und Hügel hatten sich die Britannier aufgestellt, nach Stamm und Sippe geordnet. Im grellen Sonnenlicht schillerten ihre gestreiften und karierten Gewänder und auch die bemalten Schilde wie ein aufgewühltes Meer aus galligen Farben. Einige hatten die nackten Oberkörper bemalt, die helle Haut bis an die Hüften mit leuchtend bunten, spiraligen Zeichen des Krieges verziert. Andere trugen Kettenhemden, deren Glieder in der Sonne funkelten. Die blanken Schilde warfen das Licht zurück und ließen die hellen Klingen blitzen. Doch das gleiche Licht sorgte auch dafür, dass die Rüstungen der Römer blinkten, die auf dem nahen Hügel warteten.
Die höhere Lage verschaffte dem Feind einen Vorteil, aber sie sahen direkt in die Sonne, dachte Boudicca, als sie in den Streitwagen hinter Tascio sprang. Sie bewegte die Schultern, um das Gewicht ihres schlackernden Kettenhemds zu verteilen, das eigentlich für einen großen, kräftigen Mann gefertigt war. Das zusätzliche Gewicht schien ihr auf dem Wagen mehr Standfestigkeit zu verleihen, obgleich es ihr nach der wochenlangen Reise keine großen Schwierigkeiten mehr bereitete, das Gleichgewicht zu halten. Ihr rot karierter Umhang flatterte im Wind hinter ihr, als Tascio die Pferde Richtung Kampflinie lenkte. Sie konnte deutlich spüren, wie auch die Rabenschwingen, die an ihrem spitzförmigen Helm klebten, im Wind flatterten. Ein zweiter Streitwagen mit Rigana und Argantilla folgte ihr. Wenn es so weit war und die Schlacht begann, würde Calgac sie zurück zu
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