Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
einzelne Gerüche auszumachen.
»Atme jetzt tief, Coventa. Rieche den Rauch des Holzes aus dem Feuer. In den Feldern ist das Heu fast schnittreif. Atme tief ein – und wieder aus …« Sie senkte die Stimme. »Rieche das satte Gras, das noch warm ist von der Sonne. Du bist hier auf Mona, du bist hier bei mir in Sicherheit!«, fügte sie hinzu, während der Atem des Mädchen langsam ruhiger wurde. Sie fühlte unter ihren Händen, wie die angespannten Muskeln sich langsam lockerten.
»Und bei mir …« Eine andere Stimme fiel ihr sanft ins Wort. Boudicca sah auf, kniff die Augen zusammen und sah Helves hochgewachsene Gestalt am Eingang stehen, die sich wie ein Schattenriss vor dem dämmrigen Himmel dahinter abzeichnete. Einer ihrer Zöpfe war offen, sodass sich das Haar schlangenartig an ihrem Hals entlangkringelte – wie die Göttin mit den Schlangenhaaren aus den Geschichten, die Cunobelins griechischer Sklave immer erzählt hatte, dachte sie.
»Du kannst gehen«, fügte die Priesterin dann etwas leiser hinzu. »Ich kümmere mich jetzt um sie …«
»Ich habe sie schon fast ruhig bekommen«, redete Boudicca ihr dazwischen, doch die Gehorsam gebietende Bestimmtheit in Helves Geste ließ sie aufspringen, noch ehe sie einen weiteren Gedanken fassen konnte, und sie wich zurück. Helve kniete sich an das Bett und legte dem Mädchen ihre weiße Hand auf die Stirn.
»Coventa, Tochter des Vindomor, ich rufe dich!«
Boudicca trat einen Schritt vor, obwohl die Priesterin sie nicht dazu aufgefordert hatte.
Coventa holte tief Luft und schauderte. »Herrin, ich höre …«
»Du hörst meine Stimme, du hörst meine Worte, du wirst gehen, wenn ich es sage, und sehen, wenn ich es sage …«
»Ich höre, und ich gehorche.« Coventas Antwort klang schwach.
Boudicca erstarrte. Hatte Helve ihr einen solchen Gehorsam gelehrt? Coventa hatte nie viel über den Unterricht bei der Hohepriesterin verlauten lassen. Vielleicht ja nur deshalb, weil sie sich an nichts erinnern konnte, kam es Boudicca in den Sinn.
»Richte deinen Blick nach Westen, in die Richtung, in die die Römer marschieren. Was siehst du?«
Was sollte das? Wollte sie Coventa etwa zwingen, den ganzen Gräuel noch einmal zu durchleben? Boudicca biss sich auf die Lippen, und der Schmerz bündelte ihre Aufmerksamkeit.
»Blut und Feuer!« Coventa rang nach Atem. »Leichen …«
»Lass sie!« Boudicca fiel erneut dazwischen. »Siehst du nicht, wie sie leidet? Sie …«
»Sei still!« Der Ton war scharf und gebieterisch, so wie der von Lugovalos seinerzeit, als er Cloto mundtot gemacht hatte. Und genau wie ihm versagte auch ihr nun die Stimme bei jedem Versuch der Widerrede.
»Wie mir auffällt, hast du einen starken Drang, deine Freunde zu schützen, Boudicca. Dagegen ist an sich ja gar nichts einzuwenden, aber du musst lernen, nicht immer gleich in Harnisch zu geraten. Es gibt Mächte, denen du dich nicht widersetzen kannst, und du tust klug daran, es gar nicht erst zu versuchen, denn damit verletzt du dich nur selbst. Und ich bin so eine Macht.«
Helve wandte den Blick wieder von ihr ab und betrachtete Coventa – so wie ein Bauer ein erstklassiges Mutterschaf beäugt, dachte Boudicca bei sich.
»Du musst dich nicht in Dinge einmischen, die du nicht verstehen kannst. Wenn man der Vision ihren Lauf lässt, dann geht sie vorüber, und der Seher hat seinen Frieden wieder. Aber wenn man versucht, sie zu unterdrücken, dann bleibt der Gräuel in seiner Seele und wird ihn wieder und wieder heimsuchen. Das Kind wird keinen Schaden nehmen.« Helve zog eine ihrer fein geschwungenen Brauen hoch. »Hat sie sich denn jemals bei dir über die Arbeit mit mir beklagt?«
Boudicca schüttelte den Kopf. Doch wenn sie es recht bedachte, dann hatte Coventa so gut wie nie auch nur ein Wort über ihre Arbeit mit Helve verloren. Aber weshalb? Aus Ehrfurcht oder aus Abneigung? Oder einfach weil Helve Coventas Erinnerungsvermögen so unterdrückte, dass sie gar nichts erzählen konnte?
Helve kräuselte verächtlich die Lippen und wandte sich erneut Coventa zu, war sich ihrer Macht so gewiss, dass sie nicht einmal nach jemandem rief, der Boudicca abholte.
»Coventa, Kind, steige auf, steige hoch über das Schlachtfeld. Du bist ein Vogel, schwebst weit über diesem Ort, der nichts zu tun hat mit dir. Fliege höher, meine Liebe, und erzähle mir, was der Vogel sieht …«
Das Mädchen auf dem Bett stieß ein langes, schauriges Seufzen aus. »Nacht bricht herein. Frauen ziehen über
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