Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
»Der römische Befehlshaber ließ eine Brücke über die Tamesa bauen und wartet angeblich nur darauf, bis der Kaiser sie überquert, um die Eroberung triumphal zu vollenden.«
»Und? Wird er das?« Das Feuer warf einen glänzenden Schimmer auf Boudiccas Haar.
»Meine Liebe, im Südosten gibt es niemanden mehr, der sich ihm entgegenstellen könnte. Die Frage ist vielmehr die, ob die Eroberung von Dauer sein wird.«
Schließlich war schon Julius Caesar einmal da gewesen, hatte sich als Eroberer ausgerufen, war wieder abgezogen, woraufhin Britannien ein Jahrhundert lang unbehelligt blieb. In den Wipfeln der Bäume flüsterte der Wind, aber sie konnte nicht verstehen, was er ihr antworten wollte.
»Es ist spät geworden.« Lhiannon stand plötzlich auf und ging in Richtung der Hütten. »Wir sollten uns schlafen legen. Morgen zeige ich dir die Insel. Und übermorgen, an Neumond, werden wir an der Blutquelle deine Weihe vornehmen.«
Obgleich Boudicca etwas überrumpelt war von Lhiannons übereiltem Aufbruch, sagte sie nichts und folgte ihr bereitwillig.
Im ersten fahlen Grau des Morgens lag eine Kälte in der Luft, die bis auf die Knochen zu spüren war. Boudicca hätte eigentlich darauf gefasst sein müssen, denn von zahllosen Ritualen bei Sonnenaufgang auf der Druideninsel wusste sie, wie eiskalt es frühmorgens sein konnte. Aber irgendwie hatte sie angenommen, dass es auf Avalon nicht so frisch sein würde, da es weiter südlich lag. Im Schein der Nachmittagssonne war ihr die Heilige Insel als ein Ort der Schönheit und Macht erschienen. Doch als sie nun hinter Lhiannons verhüllter Gestalt herging und sich der tiefen Furche zwischen Obstgarten und Hügelspitze näherte, wo die Blutquelle aus der Erde trat, verschwammen die dunklen Umrisse von Baum und Fels zu vielgestaltigen Dunstschwaden, und sie vermochte nicht zu sagen, ob sie die neuen Gebilde wunderbar oder grauenvoll finden sollte.
Vermutlich ist dies die erste Lektion …, dachte sie im Stillen, als sie achtsam ihren Weg durch das Morgengrauen suchte. Wir alle tragen Gut und Böse in uns, und im Wissen darum müssen wir gut wählen …
Vor einer Eibenhecke, an deren Fuße sie im fahlen Licht einen Spalt erkennen konnte, hielten sie an. Sie drehte sich zu Lhiannon, um sie zu fragen, ob dies der Quelleingang sei, aber sie war verschwunden.
»Boudicca, Tochter der Anaveistl, warum bist du gekommen?«, fragte eine Stimme von der anderen Seite der Hecke. Boudicca kniff die Augen zusammen. Zuvor hatte man sie nie beim Namen ihrer Mutter genannt, sondern immer und überall als das Kind ihres Vaters angesehen, doch hier ging es nun um rein frauliche Dinge. Zum ersten Mal fragte sie sich, wie sich ihre Mutter wohl gefühlt hatte, als sie zur Frau geworden war. Dieses Zeremoniell hatte sie sicherlich nicht durchlaufen, obgleich der Übergang in die Fraulichkeit in allen Stämmen seit jeher von bestimmten feierlichen Handlungen begleitet war.
»Ich war Kind – nun werde ich Frau. Ich war unwissend – nun werde ich nach Weisheit streben.«
»Lege deine Gewänder ab. Nackt bist du in die Welt gekommen. Und nackt sollst du auch jetzt sein, um den Übergang zu vollziehen, um wiedergeboren zu sein …« Sie wusste, dass es Lhiannon sein musste, die da sprach, doch sie klang … fremd.
»Komm!«
Zitternd vor Kälte ließ Boudicca ihren Umhang fallen. Spitze Steine piekten sie in die Knie, und die stacheligen Eibennadeln scheuerten ihren Rücken wund, während sie durch den Spalt in den Eingang zur Quelle kroch. Sie duckte sich ganz klein zusammen, um nicht noch mehr Schürfungen abzubekommen.
Hinter ihr hielt sich die Sonne noch immer im Schutz des Hügels versteckt, doch als Boudicca auf der anderen Seite des Spalts wieder herauskroch, blickte sie in helles Sonnenlicht. Die Eibenhecke erstreckte sich nach allen Seiten, zog sich bis in den Obstbaumhügel hinauf. Das Wasser der Heiligen Quelle sprudelte irgendwo oberhalb von ihnen aus dem Boden und sickerte durch die Erde hinab in einen weiten Teich, der umsäumt war von Steinen, die durch das eisenhaltige Wasser rostrot verfärbt waren.
Auf der anderen Seite stand die verhüllte Gestalt, von der sie wusste – ja, hoffte –, dass es Lhiannon war. Sie fragte sich, wie dieses Zeremoniell wohl unter der versammelten Priesterinnenschaft vonstattenging, und wusste nicht recht, ob sie enttäuscht oder froh darüber sein sollte, dass sie ganz allein hier war und ihre Weihe nur von Lhiannon erhalten würde, die
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