Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
Schuhe zu und sah dann auf. Die Weihe war jetzt zwei Tage her. Die vergangene Nacht war wolkig gewesen, aber die Nebel über dem Sumpfland lichteten sich allmählich, und hinter den Apfelbäumen erhob sich der Tor sanft und grün vor einem lachenden Himmel.
»Es ist immer das Gleiche, und immer anders«, sagte sie lächelnd. »Der Ablauf des Rituals hat sich vermutlich nicht groß verändert, seit das Volk der Weisheit zum ersten Mal seine Töchter in diesem Teich geweiht hat. Doch die Macht, die es beschwört, die innere Wandlung, erlebt wohl jede junge Frau anders.«
Ihre eigene Weihe hatte sie als ein langsames Entfalten des Bewusstseins in Erinnerung, Stufe für Stufe, wie das langsame Öffnen einer Blumenblüte, bis sie am Ende einen kurzen Blick auf das Blütenherz des Lichts erhascht hatte. Ein ganzes Leben reichte nicht aus, dachte sie, um das zu erfassen, was sie damals, als sie selbst im Teich gestanden hatte, tief innen gefühlt hatte.
Sie kam nicht auf den Gedanken, dass Boudicca genau das Gleiche erlebt und gefühlt hatte, aber sie wusste, dass mit dem Mädchen eindeutig etwas geschehen war. Und wie in einem Ritual üblich, ist der Gebende ebenso reich gesegnet wie der Empfangende. Lhiannon war aus Kummer über die gefallenen Krieger Britanniens noch immer gequält, aber sie war daran erinnert worden, dass die Große Mutter, die um ihre Kinder weint, sie auch neu gebiert.
»Ich versuche noch immer, all die weisen Worte zu begreifen, die du mir danach gesagt hast, als wir neben dem Teich unser Fasten brachen«, sagte Boudicca.
Lhiannon runzelte die Stirn. In der Euphorie, die auf die Weihe folgte, als ihre nackten Körper noch vom Heiligen Feuer erhitzt waren, hatte sie Boudicca Dinge anvertraut, die sie sich kaum selbst einzugestehen wagte. Nicht einmal, wenn sie an Ardanos’ Seite ging, konnte sie sich so mitteilen. Ihre Seelen waren genauso nackt gewesen wie ihre Körper, sie waren nicht länger Lehrerin und Schülerin, sondern zwei Frauen, vereint in seelischer Vertrautheit, die im Alleinsein nicht möglich gewesen wäre. Und Lhiannon begann zu ahnen, dass nun ein Band zwischen ihnen geschmiedet war, das sie so nicht beabsichtigt hatte.
Dieses Mädchen hat Fähigkeiten entwickelt, die man nach vier Jahren bei den Druiden nie vermutet hätte, sinnierte sie gedankenvoll. Wenn sie sich entschließt, zurück zu ihrem Volk zu gehen, ist die Gelegenheit vertan, sie zu nutzen, und ich werde voll Trauer sein. Aber nicht darüber, sondern über den Verlust einer Seele, denn zum ersten Mal in meinem Leben bin ich einer Seele begegnet, die mir eine wahre Freundin sein könnte.
»Wenn du schon alles begreifen würdest, dann wäre es keine echte Weihe gewesen«, antwortete Lhiannon und versuchte, ihre seelische Erregung zu verbergen. »Das ist ein Anfang. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir, um zu lernen, was das alles bedeutet.«
»Ja, das nehme ich an … Muss ich mich heute entscheiden, ob ich bei den Druiden bleiben will?«
Lhiannon holte tief Atem. Nein, den Göttern sei Dank, dachte sie … und laut fügte sie hinzu: »Wir haben noch ein paar Tage. Nutze jeden Tag als eine neue Lektion. Für heute schlage ich vor, dass wir zum Tor hinaufsteigen.« Und schon stand sie auf und nahm ihre Sachen.
Sie bemerkte, dass Boudicca sich eine weitere Frage verbiss, und lächelte. Später würden sie sich weiter unterhalten können. Noch war genug Zeit.
Der Weg führte um den Apfelbaumhügel herum und an der Eibenhecke vorbei, die den Blick auf den Heiligen Teich verbarg. Dahinter sickerten die Wasser der Milchquelle langsam hinab, und der natürliche Überlauf hinterließ einen bleichen Film auf den Steinen. Die beiden Frauen hielten an, um ihre Flaschen zu füllen. Nach dem eisernen Geschmack der Blutquelle schmeckte das Wasser der Milchquelle nach Stein. Rot und weiß – Blut und Milch nährten den Boden.
Am Fuße des Tor standen Bäume dicht an dicht, die Hänge jedoch hatte man in vergangenen Zeiten gerodet, und weidende Schafe sorgten dafür, dass sie auch kahl blieben. Als die Frauen aus dem Dickicht hervortraten, lag der steile Hangrücken des Tor vor ihnen.
»Wollen wir den direkten Weg nach oben nehmen?«, fragte Boudicca. Von dort, wo sie standen, verbarg der erste steile Hang die etwas sanftere Steigung dahinter und versperrte auch die Sicht auf den Steinkreis auf dem Gipfel.
»Das können wir tun – oder wir gehen auf der Rückseite herum und nehmen einen zwar kürzeren, aber noch
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