Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
immerhin diejenige von allen war, der sie am meisten vertraute.
»Du bist in den Tempel der Großen Göttin gekommen, die, obgleich sie vielerlei Gestalten annimmt, gestaltlos ist, und, obgleich sie bei vielerlei Namen gerufen wird, namenlos ist. Sie ist die Jungfrau, für immer und ewig unberührt und rein. Sie ist die Mutter, die Quelle allen Lebens. Sie ist die Herrin der Weisheit, die den Tod überdauert. Sie antwortet auf alle Namen, bei denen sie von den Stämmen der Menschheit gerufen wird. Die Große Göttin ist in allen Frauen, und jede Frau trägt das Gesicht der Göttin. Alles, was sie ist, das bist fortan auch du. Sie gebiert alle Veränderung, erzeugt Leben, zerstört Leben. Bist du gewillt, sie in all ihren Gestalten anzunehmen?«
Boudicca räusperte sich. »Ja, das bin ich.«
»Sei der Schoß der Mächtigen.« Die Priesterin machte eine Handbewegung in Richtung Teich. »Wer auch immer ihn unwürdig betritt, soll sterben; und die Toten, die hineingegeben werden, sollen leben. Willst du diesem Mysterium mutig begegnen?«
Der Himmel war jetzt noch heller. Boudicca fragte sich, ob das matt glänzende Wasser des Teichs so kalt war, wie es aussah, doch ihre Stimme klang fest, als sie antwortete: »Ja, das will ich.«
»Dann steige in den Teich!«
Beim ersten Schritt in das eiskalte Wasser überfiel sie ein heftiger Schauder. Sie schlotterte vor Kälte und musste sich am Riemen reißen, um nicht gleich wieder schreiend hinauszuspringen. Mochte Helve ihre Fähigkeiten ruhig verachten, etwas von der mentalen Stärke der Druiden hatte Boudicca übernommen und beherrschte es sehr gut. Sie holte tief Luft, suchte nach ihrem inneren Feuer und fühlte es unterhalb ihres Brustbeins, wo es wie eine winzige Sonne pulsierte. Sie musste nur noch einmal tief durchatmen, um es in alle Glieder zu hauchen.
Ohne zu zögern, trat sie tiefer hinein, und ihre Haut fing an, zu kribbeln und zu prickeln, sobald das Eis von außen auf das Feuer von innen traf. Als sie aufblickte, sah sie auf der anderen Seite des Teichs eine weitere Gestalt in das Wasser hinabsteigen, deren Bewegungen ihre eigenen spiegelten. Lhiannon, sagte sie sich, aber gegen den leuchtenden Himmel konnte sie nur einen dunklen Umriss erkennen. In ihrer Haltung sah sie etwas von Mearan, in ihrer Anmut etwas von ihrer leiblichen Mutter, und die Kopfbewegung hatte sie oft bei sich selbst gesehen, wenn sie sich über einen spiegelnden Teich beugte.
Kräuselnde Wellen brachen dieses Bild in tausend weitere kleine Spiegelbilder, während sie bis zur Brust ins Wasser sanken. Rot und blond, sehnig und schmächtig, bewegten sie sich durch den Teich aufeinander zu.
»Durch das Wasser, das das Blut der Herrin ist, mögest du gereinigt werden …«, flüsterte diese andere Gestalt, welche Lhiannon war und gleichzeitig nicht Lhiannon war. »Aus diesem Schoß mögest du wiedergeboren sein …« Lhiannon kam näher, und ihre Brüste berührten sich, als sie ihre Hände auf Boudiccas Schultern legte und sie hinunter in das kühle Nass drückte.
Als das Wasser sich über ihr schloss, brannten die Wunden, welche die Hecke in ihren Rücken geschürft hatte, fingen an zu prickeln, erzeugten ein Gefühl, das langsam durch ihren ganzen Körper wogte, als ob sie tatsächlich neu geboren würde. Sie konnte spüren, wie die Hände all derer, die in diesem Teich vor ihr geweiht worden waren, sie beglückten und segneten. Das pochende Blut in ihren Ohren war wie das Schlagen mächtiger Flügel; sie badete im Licht und wusste nicht, ob dieses Licht von außen oder von innen kam.
Geliebte Tochter … Aus den Tiefen ihres Bewusstseins drang eine Stimme. Zunächst dachte sie, es sei die der Morrigan, aber die Stimme war weit gewaltiger – ließ gar ihre Knochen schwingen. In Blut und Geist bist du wahrhaftig mein eigen Kind. Dich schenke ich der Welt, und die Welt schenke ich dir. Was auch immer dir geschieht, ich werde nie weit von dir sein, wenn du nur nach innen siehst. Geh hinaus und lebe!
Dann zogen kräftige Hände sie wieder nach oben. Haut rieb weich gegen Haut, als sie auftauchte und Lhiannons Arme sie umschlossen. Vom Himmel warf die Sonne ihren flammenden Schein, und aus dem Wasser flackerte helles Licht, hielt sie umfangen – strahlende Geister zuhauf, die jauchzten und frohlockten. Und so standen sie beisammen, in einem See aus Feuer.
»Wie hast du deine Weihe zur Frau erlebt? Genauso?«
Lhiannon war überrascht von Boudiccas zaghafter Frage, schnürte sich die
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