Avalon 04 - Die Hüterin von Avalon
Takt des langen Winters deckte sich mit Lhiannons Gemütsverfassung, aber mit Beginn des Frühlings kam der Takt des Lebens wieder in Schwung. Und als sie diese neue Energie durch ihre Adern fließen spürte, wusste sie, dass sie geheilt war.
Es war ihr klar, dass sie den Tor bald würde verlassen müssen, aber sowie der wankelmütige Frühling war auch sie noch unentschlossen. Ein Jahr zuvor waren sie und Ardanos dabei gewesen, die Verteidigung der Festung der Großen Steine vorzubereiten. Nun war die Feste eine römische und der Großteil der südlichen und westlichen Gebiete in römischer Hand. Feldherr Plautius stieß durch das Mittelland nach Westen vor. Caratac hielt sich irgendwo in den Bergen dahinter versteckt. Selbst wenn Lhiannon bereit gewesen wäre, dem Krieg noch einmal ins Gesicht zu schauen, gab es jetzt nichts mehr für sie zu tun.
Am ersten schönen Tag nach der Tagundnachtgleiche packte sie die Unternehmungslust, und sie stieg den Tor hinauf. Sie nahm diesmal nicht den spiralig gewundenen Pfad, aber das war auch nicht so wichtig. Ihr Bewusstsein von der Gegenwart der Jenseitigen Welt begleitete sie, wo immer sie ging. Der Wind kräuselte das junge Gras. Unter ihr zog sich das Moor über das ebene Land, in dem vom Frühjahrsregen noch große sumpfige Lachen standen – wie ein Mosaik aus blauen und silbernen Teilen in einem lichtvollen Wechselspiel. Doch die Frühlingssonne schien warm auf ihre Schultern, und als sie den Gipfel erreichte, legte sie sich ins Gras, um auszuruhen.
Ob es Schlaf war oder eine Vision, die sie übermannte, wusste sie später nicht zu sagen – jedenfalls sah sie sich plötzlich an einem Ort unter wolkenlosem Himmel, auf weiten Feldern, wo die Luft nach Meer roch. Boudicca war bei ihr, schöner denn je, die Brüste voll, aber das Gesicht hager, was ihre schön geschwungenen Wangen und Brauen hervorhob. In ihren Augen sah Lhiannon eine Trauer, die ihrer eigenen gleichkam.
»Lhiannon …« Boudicca rief sie, und sie hörte sie über alle Entfernungen hinweg. »Lhiannon, ich habe Angst. Ich brauche dich … komm zu mir!«
Boudicca kniete am Rand der Opfergrube, tastete über die Verzierungen, die den Bauch der Schale schmückten, die sie in den Händen hielt, feine cremefarbene Keramik im gallischen Stil, die ihr Volk aus dem Land jenseits des Meeres mitgebracht hatte. Die Schale gehörte zu einem ganzen Satz und wurde zusammen mit anderen Kostbarkeiten von ihrer Hochzeit von Eponadunon nach Ramshill überbracht, als sie dort endgültig Quartier bezog. Sie hatte Primeln hineingesteckt, die sie gepflückt hatte, als sie durch den Wald spaziert war, der den Pferdeschrein am Fuße des Hügels teilweise umgab. Zur anderen Seite hin war das Land offen, ging auf den Pfad, der entlang des Baches führte. In der Mitte der Opfergrube stand ein Pfahl mit dem jüngsten Pferdeopfer darauf, das sie sinnend betrachtete.
»Ihr Alten, die ihr hier schon lange vor mir wart«, flüsterte sie. »Euer Staub ist Teil der Erde, deren Früchte mich und mein Kind ernähren. Gebt uns euren Segen. Die Geister dieses Landes haben mir ein Leben genommen, da müsst ihr mir bestimmt nicht noch eines nehmen! Bitte erkennt diese Opfergabe an!«
Als sie sich hinunterbeugte, um die Schale abzusetzen, verlor sie das Gleichgewicht, und die glatte Keramikschale rutschte ihr aus der Hand, schlug auf einen Stein und zerbarst. Sie fiel auf Hände und Knie, blickte starr vor sich hin, als das Wasser herauslief und in den Boden sickerte. Wie ein Nachbild stieg die Erinnerung in ihr hoch, wie die Könige damals Schwerter und Schilde zerbrochen hatten, bevor sie sie im Schwarzen Teich geopfert hatten. War dies ein Zeichen, dass die Ahnen das Opfer angenommen hatten, oder ein Omen, dass ihr Mutterleib so nutzlos war wie die zerborstene Schale?
Sie war keine Druidin, um dies deuten zu können! Sie hatte sich geweigert, Priesterin zu werden, ihre Pflichten als Ehefrau und Königin aufgegeben … aber würde sie je Mutter sein? Sie beugte sich über ihren Bauch und weinte.
»Boudicca? Wer hat dir wehgetan, Kind? Was ist los?«
Für einen kurzen Augenblick hielt sie die sanfte Stimme für Einbildung. Dann aber hörte sie ein Pferd schnauben und Pferdegeschirr knarzen. Sie drehte sich um, und verschwommen erkannte sie eine dünne, blau gewandete Frau mit goldenem Haar. Langsam stand sie auf.
»Lhiannon? Bist du das wirklich? Ich habe dich so sehr herbeigesehnt! Bist du wirklich hier?« Die Priesterin glitt vom
Weitere Kostenlose Bücher