Avalon 08 - Die Nebel von Avalon
Lancelot. Sie waren Männer. Sie lebten ein erfülltes Leben; sie mußten in die Welt hinausziehen, den Tod oder Schlimmeres im Kampf auf sich nehmen. Aber für sie gab es nicht diese angsterregenden Entscheidungen. Was sie auch tat, wann immer sie eine Entscheidung fällte, und sei sie noch so unbedeutend, etwa, ob es zum Abendessen Lamm oder getrocknetes Rindfleisch geben sollte, immer lag diese Last auf ihrer Seele. Es war möglich, daß das Schicksal des Reichs von ihrer Entscheidung abhing. Jetzt mußte sie wählen und durfte es nicht nur dem Willen Gottes überlassen, ob sie dem Reich einen Erben schenkte, oder nicht – einen Sohn vom Blut des Uther Pendragon… oder…? Wie konnte sie, eine Frau, diese Entscheidung fällen? Gwenhwyfar zog die Felldecke über den Kopf und rollte sich darunter zusammen.
Noch heute abend hatte sie in der Halle gesessen und Lancelot beobachtet, wie er der Musik lauschte. Und der Gedanke hatte sich ihr aufgedrängt… Sie liebte ihn seit langem, aber jetzt wußte sie, daß sie ihn begehrte. Insgeheim war sie nicht besser als Morgause, die nach Belieben die Hure spielte, die sich die Ritter ihres Mannes ins Bett nahm und, wie man hinter vorgehaltener Hand flüsterte, selbst hübsche Knappen oder Diener… Artus war so gut, und sie hatte ihn wirklich liebgewonnen. Hier in Caerleon hatte sie Sicherheit gefunden. Es sollte nicht soweit kommen, daß man in der Burg oder draußen im Land Skandalgeschichten über sie erzählte wie über Morgause.
Gwenhwyfar wollte nur gut sein; ihre Seele sollte rein und tugendhaft bleiben. Es bedeutete ihr sehr viel, daß alle anderen sie für tugendhaft hielten und in ihr eine gute und von keinem Makel befleckte Königin sahen… Sie kannte zum Beispiel nichts Böses über Morgaine. Drei Jahre hatte sie an ihrer Seite gelebt, und soweit sie wußte, war Morgaine so rein wie sie selbst. Trotzdem erzählte man, Morgaine sei eine Hexe, da sie in Avalon gelebt hatte, einiges Wissen über Heilkräuter besaß und in die Zukunft sehen konnte. Deshalb flüsterten die Leute am Hofe und im Land, Morgaine habe einen Pakt mit den Feen oder dem Teufel geschlossen. Selbst Gwenhwyfar fragte sich manchmal, ob so viele Menschen lügen konnten, obwohl sie Morgaine kannte. Und morgen mußte sie Lancelot gegenübertreten und an Artus' Seite ihre Pflichten erfüllen – im Bewußtsein, daß er ihr die Erlaubnis gegeben hatte… Würde sie Lancelot noch einmal in die Augen blicken können? Er war aus Avalon, er war der Sohn der Herrin vom See. Es mochte sehr wohl sein, daß er Gedanken lesen konnte. Er würde in ihre Augen sehen und wissen, was sie dachte. Dann stieg heftiger Zorn in ihr auf, erfaßte ihren bebenden Körper wie eine gewaltige Woge, und sie ängstigte sich. Da lag sie nun, wütend und verzagt. Sie glaubte, sie würde nie mehr wagen, einen Fuß vor die Tür zu setzen, aus Angst vor dem, was sie vielleicht tun konnte. Jede Frau am Hof wollte Lancelot haben… ja, sogar Morgaine! Sie hatte wohl beobachtet, wie ihre Schwägerin den Ritter ansah. Und deshalb hatte sie vor langer Zeit widersprochen, als Artus vorschlug, sie und Lancelot sollten vermählt werden… Morgaine wäre für Lancelot sicher zu frei. Vielleicht hatten sie sich sogar gestritten, denn in den letzten Tagen vor Morgaines Abreise nach Avalon hatte sie bemerkt, daß sie weniger als gewöhnlich miteinander sprachen und es vermieden sich anzusehen. Ja, sie vermißte Morgaine… aber alles in allem war sie doch froh, die Herzogin von Cornwall nicht am Hof zu haben. Sie würde keinen Boten nach Tintagel entsenden, um herauszufinden, ob sie sich dort aufhielt. Sie stellte sich vor, sie würde vor Morgaine wiederholen, was Artus gerade gesagt hatte… Sie müßte vor Scham vergehen, und doch ahnte sie, daß Morgaine sie auslachen würde. Morgaine würde sicher sagen, die Entscheidung, Lancelot zum Geliebten zu nehmen oder es nicht zu tun, liege ganz allein bei ihr… vielleicht sogar, Lancelot müsse es entscheiden. In ihr schienen Flammen zu lodern und sie wie das Höllenfeuer zu verzehren: Sie würde sich Lancelot anbieten, und er würde sie ablehnen. Dann mußte sie wirklich vor Scham sterben. Sie konnte sich nicht vorstellen, Lancelot oder Artus oder einer ihrer Hofdamen jemals wieder in die Augen blicken zu können. Selbst mit den Priestern konnte sie nicht darüber sprechen, denn dann wüßten sie, daß Artus nicht der Christ war, für den sie ihn hielten. Wie konnte sie noch einmal einen
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