AvaNinian - Drittes Buch (German Edition)
geschenkt und mir ihre Kräfte verliehen«, erklärte sie rasch, getroffen von dem Vorwurf, dass sie Tidis ihre Hilfe nicht mit größerem Vertrauen vergolten hatten.
»Siehst du, bei mir ist es ähnlich. Auch mich hat eine Gottheit in ihr Wesen aufgenommen und überreich beschenkt. Bei mir ist es der Gott, der die Zeit regiert. Er hat mir meine eigene Zeit gegeben, in der ich mich und alles, was in meiner Umgebung ist, bewegen kann, wie es mir gefällt. Ich kann ein Kind sein, ein junges Mädchen wie du, eine Frau in der Lebensmitte oder eine Greisin. Ich kann den Ort meines Aufenthalts in den Anbeginn der Zeiten verlegen - das Nahen des Himmelskörpers habe ich miterlebt und als erstes lebendes Wesen in den Krater geblickt - oder in jede andere Zeit, wie es mir gefällt. Ich kann die ganze Welt umrunden und es dauert nur einen Augenblick. Für mich ist die Zeit ein Ort, in dem ich mich nach Belieben bewegen kann und ich sterbe nicht, solange ich den Ort meines Todes nicht aufsuche.«
Die letzten Worte klangen bitter.
»Also hast du uns in deine Zeit versetzt?«, fragte Jermyn und Tidis nickte.
»Ja, schon seit einer ganzen Weile ist mir nach Herbst zumute und als ihr hierher kamt, habt ihr meine Zeit betreten. Ihr habt es nicht bemerkt, als wir die Grenze überschritten haben ...«
»Doch«, unterbrach Ninian, »ich habe es gemerkt, uns wurde übel und schwindelig, wie eben, als du deine Gestalt gewechselt hast, aber ich habe es auf den Hunger und die Erschöpfung geschoben. Außerdem war ich zu sehr um Jermyn besorgt, um auf etwas anderes zu achten.«
»Ganz recht«, knurrte Jermyn und griff nach seiner Tasse, »mir war die ganze Zeit zum Sterben ...«
Er hielt inne. Das Wort hing zwischen ihnen.
»Ja«, sagte Tidis langsam, »ich habe etwas getan, was mir nicht zusteht. Wir sind uns zu spät begegnet.«
Ninian wurde blass und fasste nach Jermyns Hand.
»Ihr tatet mir leid, so jung, alle beide ... und ich ... ich war einsam.«
Eine Weile war es ganz still, dann holte Tidis tief Luft.
»Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es ist, wenn man praktisch unsterblich ist. Der Herr der Zeit will mich nicht gehen lassen und ich bringe es nicht über mich - noch nicht - jenen Ort aufzusuchen. Ich kann viele verschiedene Leben leben, aber immer muss ich Abschied nehmen, von denen, die ich liebgewonnen habe. Ehemänner, Kinder, Freunde - alle verliere ich und bleibe allein zurück. So habe ich mich schließlich in die Einsamkeit geflüchtet. Ich habe in all den unendlichen Jahren viel gelernt über die Heilkraft der Pflanzen und der Gesteine und über den Menschen, seine Leidenschaften und seine Krankheiten. So bin ich eine Heilerin geworden und meistens lebe ich an diesem Ort, als alte, abgeklärte Frau, zufrieden damit, den Menschen zu helfen. Aber manchmal sehne ich mich nach mehr, nach Verständnis, nach Menschen, denen ich mich anvertrauen kann. Als ich euch traf, war ich verzweifelt und ich merkte, dass ihr nicht wie alle anderen seid, also habe ich die Zeit ein wenig - berichtigt. Bis jetzt scheinen es die Schicksalsmächte nicht übelgenommen zu haben«, sie lächelte schuldbewusst.
Eine Weile war es still.
»Ich wäre tot, wenn wir dir nicht begegnet wären ...«
Jermyn schüttelte ungläubig den Kopf, aber Ninian sprang auf und umarmte Tidis so heftig, dass sie nach Luft schnappte.
»Sachte, Mädchen, sachte ... ich war sehr froh, euch bei mir zu haben«, fuhr sie fort, nachdem Ninian sich wieder gesetzt hatte, »aber nun ist es Zeit, dass ihr wieder in eure eigene Welt und eure eigene Zeit zurückkehrt. Es tut mir nicht gut, wenn ich mich zu sehr an Menschen gewöhne.«
»Werden wir dich wiedersehen?«
Tidis runzelte die Brauen. Sie machte sich an den Speisen auf dem Tisch zu schaffen und gerade, als Ninian ihre Frage wiederholen wollte, antwortete sie leichthin:
»Gewiss, wenn ihr wollt. Für dich«, sie nickte Jermyn zu, »wird es ein Leichtes sein, mich zu rufen. Dann komme ich zu euch oder ihr kommt an diesen Ort. Hier ist meine Heimat, aber ihr müsst mich in eure Zeit rufen. Esst jetzt, ihr habt einen langen Weg vor euch.«
»Das haben wir gesehen«, erwiderte Jermyn und Ninian setzte hinzu:
»Ich konnte kaum glauben, dass wir beide ihn so weit geschleppt haben.«
Tidis lächelte.
»Nun, das haben wir auch nicht, ich habe die Zeit ein wenig zusammengezogen und ich werde es jetzt wieder tun, so dass ihr nicht länger als einen Tag braucht, um zurück nach Neri zu gelangen. Und jetzt
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