AvaNinian - Drittes Buch (German Edition)
streichelte die Ziegen, deren Geruch sie nicht mehr störte. Die zierlichen Tiere leckten ihr das Salz von den Händen und stießen spielerisch nach ihr.
Schließlich wanderte sie schweren Herzens um das Haus herum und setzte sich auf die Bank, wie an jenem denkwürdigen ersten Tag, als Tidis sie in den Garten geschickt hatte. Die hohen Bäume hatten in der Nacht viele Blätter verloren, aber der Rest hob sich im herbstlichen Sonnenschein sattgelb von einem wolkenlos blauen Himmel ab.
Ninian seufzte, als sie an die steinerne Stadt dachte, wo es keine Bäume gab, kein Grün, das die Augen erleichterte. Und plötzlich beunruhigt, fragte sie sich, was sie vorfinden würden, wenn sie zurückkehrten. Wag und Kamante waren ganz allein gewesen, all diese Wochen und es gab viele, die ihnen nicht wohlgesonnen waren - es war wirklich Zeit, dass sie nach Hause kamen.
Die Haustür öffnete sich und Jermyn und Tidis traten heraus. Er trug einen Knappsack und grinste sie an. Es stimmte sie traurig, dass er keinerlei Wehmut dabei empfand, diesen Ort zu verlassen, an dem sie glücklich gewesen waren.
»Auf geht’s, mein Schatz,« sagte er übermütig, ohne auf ihre trauervolle Miene zu achten.
»Du willst also keine neue Mode in der Stadt einführen«, ihr Gesicht hellte sich auf. »Da bin ich aber erleichtert.«
»Ja, ich hab mich von dem Gestrüpp getrennt. War ein schönes Stück Arbeit«, er rieb sich vielsagend Kinn und Wangen, die kräftig gerötet waren, »aber zum Glück hat Tidis erstklassige Rasiermesser in ihren unerschöpflichen Truhen, obwohl ich mir nicht denken kann, wofür sie die braucht.«
»Du bist nicht mein einziger männlicher Gast, Junge«, erwiderte Tidis gelassen und beim Anblick des schönen Gesichts und der glatten, braunen Schultern, die sich stolz aus der schwarzen Bluse erhoben, ging Ninian auf, dass sie viele Männer gekannt und geliebt haben musste. Und jeden hatte sie verloren, immer wieder hatte sie die Angst und den Schmerz ertragen, von denen auch Ninian schon gekostet hatte - ein leiser Schauder überlief sie. Nein, sie beneidete Tidis nicht um ihre Gabe.
Jermyn schien nichts von alldem zu spüren, er hatte es eilig. Einen Augenblick bohrten sich die schwarzen Augen in die braunen, aber Tidis hielt seinem Blick gelassen stand. Mit einem kleinen Lachen gab er sie frei, umarmte sie und küsste sie auf beide Wangen. Dann trat er zurück und Ninian folgte seinem Beispiel. Tränen brannten hinter ihren geschlossenen Lidern, sie drückte die Frau fest an sich.
»Ich danke dir, Tidis, ich werde immer in deiner Schuld stehen.«
»Nein, mein Kind, durch eure Gesellschaft habt ihr alles abgegolten und wir werden uns wiedersehen. Geht behütet.«
Sie gingen den Gartenweg hinunter, aus dem Tor hinaus, und Tidis sah ihnen von der Schwelle aus nach. Der Junge hatte den Kopf hoch erhoben, das rote Haar flammte herausfordernd im Sonnenschein, er begann zu pfeifen, kaum dass er die Umzäunung hinter sich gelassen hatte. Das Mädchen zuckte zusammen und sagte etwas zu ihm. Er verstummte und legte den Arm um sie und so verschwanden sie im Schatten der Bäume.
Tidis stand lange da und kämpfte gegen die aufsteigende Bitterkeit. Als sie schließlich ins Haus zurückkehrte, war ihre Haut runzlig und ihr Haar grau. Sie griff nach der Kiepe und füllte sie mit den Arzneien, die sie aus den Wurzeln und Quarzbrocken zubereitet hatte. An einem anderen Ort in einer anderen Zeit wartete man auf ihre Hilfe und es gab nichts besseres als Arbeit, um quälende Erinnerungen an Vergangenes und Zukünftiges zu verscheuchen.
Wie sie vorausgesagt hatte, erreichten Jermyn und Ninian nach einem harten Marsch am Ende des Tages das Dorf Neri. Einmal hatten sie Schwindel und Übelkeit ergriffen und sie hatten gewusst, dass sie Tidis Reich verlassen hatten. Als sie sich wieder besser fühlten, hatte Ninian festgestellt, dass sie dort waren, wo sie Tidis getroffen hatte. Sie fanden den Fluss und der Rest des Weges machte ihnen keine Mühe.
Als sie die Taverna Lathica betraten, herrschte tiefe Nacht. Eine schläfrige Magd führte sie in eine schäbige Kammer.
»Glaubst du, der Wirt hat unser Gepäck aufbewahrt?«, fragte Ninian gähnend, als sie zwischen die groben Laken krochen.
»Weiß nicht. Es war nichts dabei, was wir nicht entbehren können.«
Am nächsten Tag weckte er sie so früh, dass in der Schankstube gerade erst die Blenden vor den Fenstern geöffnet wurden und die Mägde ihnen ärgerliche Blick zuwarfen.
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