AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
herausgepresst hatte.
»Ich habe keine Ahnung, wo das Schlafzimmer mit der Geheimkammer ist. Ich weiß, wie ich in den Palast des Ehrenwerten eindringe, aber ich kenne die Lage der Räume nicht. Könnt Ihr mir helfen?«
»Der Ehrenwerte Fortunagra ist ein grundschlechter Mensch, der viele Leute ins Unglück gebracht hat. Aber er ist auch ein Kunstkenner und -sammler und als solchen kenne ich ihn gut. Zwar war ich nie in seinem Haus, aber ich habe etwas, was Euch nützen wird.«
Der Händler erhob sich mühsam und tappte in die Tiefen seines Ladens. Auch Jermyn stand auf, die Wunde schmerzte in der zusammengekauerten Stellung. Er nahm die Dose, aus der Vitalonga das schwarze Pulver gelöffelt hatte. Goldstege trennten die Felder aus buntem Glasschmelz, die Muster waren lebhaft und fremdartig. Abschätzend wog er das kleine Ding in der Hand, es war schwer genug, um aus Gold zu sein.
Der alte Mann kam zurück und als er die Dose sah, schüttelte er den Kopf – nicht verkäuflich.
Jermyn stellte sie zurück, die große Rolle, die Vitalonga raschelnd auseinander springen ließ, interessierte ihn mehr. Mehrere Blätter mit Gebäudezeichnungen lagen vor ihm.
»Dies sind alte Pläne des Palastes. Zeichnungen des Baumeisters, der ihn errichtet hat und Abbildungen aus früheren Jahren, Papiere von großem Wert. Fortunagra hat mich beauftragt, alles zu sammeln, was es Wissenswertes über sein Haus gibt. Dies ist eine Handzeichnung des Baumeisters und hier, seht Ihr, im Mittelpunkt des Hauses, direkt unter dem Wachturm liegt das Gemach des Herrn, der wichtigste Raum im ganzen Gebäude. Manchmal der Staatssaal, aber oft auch das Schlafzimmer. Auf den anderen Plänen, den Arbeitsplänen, ist das Gemach überall herausgehoben, mit roter Tinte, die damals wie heute sehr kostspielig ist und nur für wichtige Mitteilungen benutzt wird. Aber nun zeige ich Euch, warum diese Handzeichnung wertvoller ist als alle anderen Pläne und warum mir der Ehrenwerte dafür den höchsten Preis zahlen wird. Achtet auf die Umrisse des Hauptraumes.«
Vitalonga nahm den metallenen Untersatz der Kanne und setzte ihn mit der Feuerzange auf den Dreifuß im Kamin. Als er glühte, holte er ihn heraus und stellte ihn auf die Steine vor dem Kamin. Vorsichtig fasste er die alte Zeichnung an einer Ecke, hielt sie eine Weile über das heiße Metall und legte sie zurück auf den Tisch. Gespannt beugte Jermyn sich vor.
Neben dem rot umrandeten Hauptraum waren bräunliche Linien erschienen. Sie bildeten ein winziges Geviert, angrenzend an die nordwestliche Ecke des Raumes. Darüber war ein geschlossenes Auge sichtbar geworden, das Zeichen des Verborgenen. Während das Papier abkühlte, verblassten die Linien, bis sie nicht mehr zu sehen waren.
»Die Geheimkammer«, flüsterte Jermyn. Vitalonga nickte.
»Verschlossen durch eine Tür, die man nur von außen öffnen kann. Sie ist so schwer, dass man sie durch nichts offen halten kann. Ihr braucht also einen zweiten Mann, der Euch herauslässt.«
»Ihr trefft den Nagel auf den Kopf«, Jermyn zog eine Grimasse, »was ist mit der Vorrichtung im Inneren der Kammer?«
»Eine der vielen Versuche, einen Schatz vor Dieben zu schützen. Glaubt mir, ich kenne fast alle, manche habe ich selbst entwickelt. Bei dieser kommt es auf das Gewicht an. Wenn Ihr den Brautschatz aus der Schlinge nehmt, müsst Ihr ihn sofort durch ein anderes, etwa gleichwertiges Gewicht ersetzen, sonst wird der Mechanismus in Gang gesetzt. Möglicherweise wird auch etwas ausgelöst, was dem Komplizen vor der Tür den Garaus macht. Ein Klotz, der von der Decke fällt oder ein Dolch, der aus der Wandtäfelung fährt. Die Alten waren ebenso einfallsreich wie misstrauisch. Irgendwo im Haus wird es einen Zugang zu der Anlage geben, wo man sie abstellen kann, aber das hat der Baumeister nicht einmal in der Handzeichnung niedergelegt. Dieses Geheimnis hat er seinem Auftraggeber mündlich mitgeteilt und der hat es ebenso weitergegeben, Fortunagra wird darum wissen, sonst könnte er die Vorrichtung nicht benutzen. Ihr müsst einen mit Sand gefüllten Beutel oder etwas ähnliches bei Euch haben.«
»Und woher soll ich wissen, wie schwer der Brautschatz ist? Vitalonga, ich bitte Euch, ich bin auf Eure Hilfe angewiesen.«
Der Kunsthändler lehnte sich zurück und musterte seinen Gast. Das stachlige rote Haar entsprach seinem Wesen; eigenwillig war er wie der dünne Zopf, den er über die Schulter warf. Der hungrige, unzufriedene Zug um seinen Mund, die
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