AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Geduld. Er darf sich nie über seine Schüler ärgern, dann lernen sie auch. Gehabt euch wohl!«
Sie marschierte davon, während die Knechte grinsten und Tyne ihr mit offenem Mund nachstarrte.
In den nächsten Tagen erschien sie pünktlich zu den Übungsstunden und mühte sich mit dem »leichten« Bogen, den er für sie herausgesucht hatte. Der Wachmann hatte seinen Ton gemäßigt und es zeigte sich, dass er kein schlechter Lehrmeister war. Seine Schüler machten Fortschritte und verbrachten nicht mehr den größten Teil der Zeit damit, nach verschossenen Pfeilen zu suchen.
»Gegen Riesen oder Ochsen sollten wir uns jetzt leidlich verteidigen können«, meinte er mit galligem Lachen, als er mit Ninian im Wagen der Wachleute über dem Schachbrett saß. Sie war öfter abends zu Gast, seit Tyne entdeckt hatte, dass sie das Spiel beherrschte.
»Wer soll uns denn überhaupt angreifen?«, fragte sie und setzte einen Bauern vor, »bis jetzt haben wir keine Menschenseele in diesen Wäldern gesehen. Ich habe gedacht, die Wege seien frei.«
»Jaha, die meisten schon. Aber wir sind noch nicht an den Schluchten. Da gibt's haufenweise Schlupfwinkel und alles mögliche Volk treibt sich da rum, Vogelfreie zumeist. Sie haben so 'ne Art Vogt, der 'nen Schutzbrief ausstellt, damit man sicher durch die Schluchten kommt, gegen Bezahlung versteht sich. Der Kerl nimmt einen dermaßen aus, dass es schon fast Raub ist. Aber man kommt wenigstens lebendig durch die Schluchten und für einen großen Wagenzug wie diesen, wo alle zusammenlegen, lohnt es sich. Allerdings«, er spuckte grimmig durch die Wagenöffnung, »kommen sie manchmal vorher, wenn der edle Herr noch nicht zuständig ist. Deshalb ist es besser, auf der Hut zu sein. He, was machst du?«
»Ich bedrohe deine Dame.« Ninian warf den Bauern hoch, den sie gerade geschlagen hatte. »Wann sind wir da?«
»In ein, zwei Tagen, aber du brauchst keine Angst zu haben. Du wirst in deinem Wagen versteckt liegen, bis wir durch die Schluchten hindurch sind.«
»Ach, und was ist mit den fehlenden Bogenschützen, ich dachte, ich sollte mitschießen?«
»Nur, wenn es hart auf hart kommt. Hinter den Schluchten sind wir im Lathischen, der Patriarch schickt Patrouillen auf die Handelsstraßen. Außerdem wird uns der alte Ely ordentlich antreiben, damit er noch rechtzeitig auf seinen Markt kommt. Sonst war ich immer froh, wenn wir endlich in Dea angekommen sind, aber diesmal – wer weiß, wie's mit uns beiden weitergeht, was, Artes?«
Tyne betrachtete finster den Armstumpf, der aus der Schlinge ragte. Artes antwortete nicht, er lag mit geschlossenen Augen auf seiner Matte. Das Fieber hatte ihn zwar verlassen, aber er war schwach wie ein Wickelkind. Tyne nahm einen Apfel aus dem Korb über seinem Kopf und biss hinein.
»Was treibt ein kleines Mädchen wie dich allein in die große Stadt?«, fragte er kauend. »Erwartet man dich?«
»Ich bin kein kleines Mädchen und ich wüsste nicht, was es dich angeht«, erwiderte Ninian scharf und bückte sich nach der Spielfigur, die ihr aus den Händen gefallen war. Als sie mit gerötetem Gesicht auftauchte, lachte sie ein wenig. »Warum geht man nach Dea? Ich will mein Glück dort machen, wie alle. Und ob mich jemand erwartet?«, sie zuckte die Schultern. »Wer weiß?«
In Gedanken versunken kehrte sie zu ihrem Wagen zurück. Bisher hatte sie immer nur so weit gedacht, bis sie das Stadttor von Dea durchschritt, aber gerade war ihr klar geworden, dass ihre Schwierigkeiten dort erst begannen. Wo sollte sie Jermyn suchen? In den Elendsvierteln, in denen er aufgewachsen war?
In einem Dorf in Tillholde fragte man den ersten Besten, der einem über den Weg lief. Die Orte waren nicht groß, die Bewohner kannten sich. In Dea dagegen sah die Sache gewiss anders aus.
»Verzeiht, könnt Ihr mir sagen, wo ich Jermyn finde? Wie? Ihr kennt Jermyn nicht? Ach, hier leben tausende von Menschen, von denen man die meisten lieber nicht kennen möchte?«
Ein Zweig, der über den Weg wuchs, schlug gegen ihre Beine. Sie riss ihn ab und ließ ihn über die Radsparren rattern.
Geduldig Straße um Straße, Viertel um Viertel abzusuchen, konnte lange dauern. Sie musste essen und schlafen. Geld und Schmuck reichten eine Weile, aber was sollte sie tun, wenn der Erlös aufgezehrt war? Sie kannte niemanden in Dea, die Häuser der Grauen Brüder waren ihr verschlossen, immer würde sie Vater Dermots vorwurfsvolle Miene vor sich sehen.
Doch, sie kannte jemanden. Beinahe
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