AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Stein zeigt die Stunde des Tages an, ein kleines Schlagwerk bringt die Töne hervor. Sie kommen aus den Südreichen und sind kostbar und selten. Mein ... mein Vater besitzt auch so einen.«
Sie biss sich auf die Lippen und legte die Dose rasch zurück. Wie zur Bestätigung ihrer Worte hörten sie durch den Spalt im Fensterladen drei dumpfe, langgezogene Glockenschläge. Die dritte Stunde des neuen Tages.
»Pah, ein Spielzeug für die Reichen«, meinte Jermyn verächtlich, »wozu sollten die Armen auch noch die Stunden ihres Elends messen?«
Das Stocken in ihrer Stimme war ihm nicht entgangen. Er war wütend auf das kleine Ding, es hatte den Zauber zerstört und sie an ihren Vater erinnert.
Er riss sich zusammen. Der Mond wanderte unaufhaltsam weiter und es war weder der Ort noch die Zeit für Zärtlichkeit oder Eifersucht. Sie hatten noch einen langen Weg vor sich und auch den Ehrenwerten Fortunagra musste einmal das Bedürfnis nach Schlaf überkommen.
Wortlos hob er den Beutel auf, der lag, wo Ninian ihn hatte fallen lassen.
Neugierig fragte sie:
»Hast du gefunden, was du gesucht hast?«
»Ja, und noch einiges, wonach ich nicht gesucht habe.«
Ein plötzliches Hochgefühl vertrieb seinen Missmut, triumphierend hielt er den Beutel hoch.
»Sie sind ganz schön schwer, deine paar Schmuckstücke«, meinte sie.
»Das sind nicht nur ein paar Schmuckstücke, das ist der berüchtigte Brautschatz der Castlerea und außerdem jede Menge Dreck, aus dem der feine Herr Gold gemacht hat.«
Auf ihren fragenden Blick fügte er hinzu:
»Ich zeig dir alles, wenn wir zu Hause sind. Wir sollten hier schnell verschwinden. Aber der Ehrenwerte soll wissen, wer ihm in die Suppe gespuckt hat.«
Er schleppte den Leuchter zurück zum Schreibtisch, tauchte eine frisch zugeschnittene Reiherfeder in das silberne Tintenfass und langte wahllos ein Blatt aus dem Wust. Ninian sah ihm über die Schulter.
»Das ist ein Brief von Artos Sasskatchevan.«
»Was? Woher weißt du das?«
Jermyn hielt den Zettel näher ans Licht.
»Es steht kein Name drauf, keine Unterschrift.«
»Er trägt sein Siegel. Hier, die Spinne, siehst du? Er hat mir den Ring gezeigt.«
»So, hat er das.« Die Vorstellung, dass Artos Sasskatchevan Ninian irgendetwas zeigte, gefiel Jermyn nicht.
»Wie kann er so blöd sein, einen Brief, den er nicht unterschreibt, mit seinem eigenen Siegel zu kennzeichnen?«, höhnte er. »Bist du sicher, dass der Zettel wirklich von ihm kommt?«
»Das Siegel ist ganz neu, er wollte es nur für seine privaten Briefe benutzen. Und ich bin ganz sicher«, beharrte Ninian, »schau hier, auf der linken Seite hat die Spinne nur ein halbes Bein. Der Steinschneider ist abgerutscht und hat es aus Versehen weggeschnitten. Artos hat mir voll Stolz erzählt, dass er ihm deshalb nur den halben Preis gezahlt hat. Er ist eben ein richtiger Krämer.«
Verächtlich rümpfte sie die Nase. Jermyn sah sie überrascht an. Ihm schien es ganz vernünftig, den Preis zu drücken, wo es eben ging, aber es sollte ihm recht sein, wenn sie schlecht von dem Kerl dachte.
»Mal sehen, was der Bräutigam unserem Ehrenwerten zu schreiben hat. Ohne Unterschrift und auf so einem Fetzen.«
Ninians Bedenken, in fremden Briefen zu schnüffeln, kannte er nicht und ohne Umschweife las er die kurze Botschaft vor.
»,Ich habe Euer Angebot bedacht und bin bereit, Euch zu treffen. Zur vereinbarten Stunde an dem Ort, den Ihr vorgeschlagen habt', – keine Anrede, keine Unterschrift. Äußerst geheimnisvoll, was haben diese beiden miteinander zu reden? Das nehmen wir auch mit, es riecht vielversprechend.«
Artos Nachricht wanderte zu den anderen in das Hemd, dann kritzelte er ein paar Zeilen auf ein Papier und streute Sand darüber. Während er wartete, dass die Tinte trocknete, las er die Namen auf der Rückseite des Zettels. Er lachte spöttisch, als er fertig war.
»Er hat 'ne Menge Leute auf seiner Lohnliste, man muss wahrhaftig auf der Hut sein.«
»Was meinst du?«, fragte Ninian verwirrt. Sie hatte ihm schweigend zugesehen und konnte sich keinen rechten Reim auf seine Vorbereitungen machen.
»Das sind alles Spitzel. Fortunagra bezahlt sie, damit sie ihm Nachrichten und Neuigkeiten zutragen, hässliche Geschichten, alles, was er als
Druckmittel gebrauchen kann. Was glaubst du, was so eine Jungfer hört und sieht.«
Ninian dachte daran, wie freimütig die Damen in Elys Haus vor Sooza sprachen. Die Kleine erfuhr gewiss eine Menge, wenn sie aufmerksam
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