AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Seine Hände waren ruhig.
»Jetzt kommt's drauf an, alter Mann«, dachte er, hob mit einer Bewegung den Schatzbeutel an und ließ den Sandsack los. Ohne sich zu rühren wartete er auf das ohrenbetäubende Scheppern eines großen Gongs, Schritte und Geschrei. Aber kein Geräusch störte die zähe Stille.
Aufatmend trat er von der Schlinge zurück und kniete mit seiner Beute auf dem Boden nieder. Durch das dicke Leder war kaum etwas zu ertasten, hastig löste er die Verschnürung und griff in den Beutel. Ein Päckchen, in weiche Lappen gewickelt, kam zum Vorschein. Er öffnete es und die Kerzenflamme schlug tiefrote Funken aus dunklen Edelsteinen.
Jermyn ließ das Päckchen auf die Knie sinken.
»Jetzt scher dich zum Teufel, Duquesne!«, dachte er. Am liebsten hätte er es laut hinaus geschrien.
Vor ihm lag der Brautschatz, das uralte, kostbare Erbe der Castlerea, um den ganz Dea wochenlang gebangt hatte und er, ein verachteter Gassenjunge, hatte erreicht, was dem großkotzigen Hauptmann der Stadtwache und seinen blauroten Hampelmännern nicht gelungen war!
Nachdem er sich versichert hatte, dass alle Schmuckstücke, die Vitalonga aufgezählt hatte, vorhanden waren, verstaute er den Beutel in seiner Tasche. Dann stand er auf, drückte sich vorsichtig an der Schlinge vorbei und trat zu dem kleinen Kabinett an der Rückwand der Kammer. Wenn er schon einmal hier war, konnte er auch nachsehen, was Fortunagra noch wichtig genug war, um es in dieser Geheimkammer zu verstecken.
Ein wertvolles altes Stück, aus tiefschwarzem Holz kunstvoll geschreinert, die Türen verschwenderisch eingelegt mit Perlmutt und Silber. Doch nicht deshalb schlug Jermyns Herz höher – die Schönheit des Schränkchens entging ihm. Aber es war nicht verschlossen, der Ehrenwerte hatte es nicht für nötig gehalten, so sehr vertraute er der Sicherheit seines geheimen Verstecks.
Jermyn öffnete die obere Tür und fand dahinter eine Reihe schmaler Schubladen und kleine Fächer, die zusammengerollte Pergamente enthielten. Er zog eines davon heraus. Als er den Namen auf der dünnen Rolle las, hob er die Brauen. Ein großer, ein bedeutender Name ... er rollte das Schriftstück auseinander. Es war eine Schuldverschreibung von beträchtlicher Höhe. So also bezahlte die für ihre Freigiebigkeit bekannte Familie d'Este ihre rauschenden Gartenfeste – mit geborgtem Geld.
Die meisten der Pergamente waren Schuldverschreibungen, oft stand ein Name von hohem Rang darunter. Als er die Schriftstücke eilig durchsah, stellte er fest, dass fast alle vornehmen Familien und selbst einige reiche Kaufleute in der Schuld des Ehrenwerten Fortunagra standen. Kein Wunder, dass sein Reichtum unerschöpflich schien.
Jermyn fand solche Geldgeschäfte nicht verwerflich. Viele Leute verdienten daran und die Geldnöte der Vornehmen interessierten ihn nicht. Ein Name jedoch erregte seine Aufmerksamkeit, er grinste in sich hinein und steckte die Rolle in den Ausschnitt seines Kittels. Die anderen legte er zurück in ihre Fächer.
Im obersten Schubfach fand sich eine bunte Sammlung von Schriftstücken – Briefe, einzelne Blätter und dünne, voll geschriebene Hefte. Er begann zu lesen, aber schon nach wenigen Zeilen verzog er das Gesicht, als habe er in eine verdorbene Frucht gebissen.
Die traurige und widerwärtige Zuneigung eines angesehenen Ratsherren für die Schafe auf seinem Landgut wurde dort ausgebreitet, eine Zuneigung, die nichts mit Tierliebe zu tun hatte. Der Bericht war von boshafter Genauigkeit und überantwortete den würdigen Herrn auf Gedeih und Verderb der Gnade Fortunagras.
Er war nicht der einzige; die Schubladen enthielten zahllose Aufzeichnungen von Lastern und Verfehlungen; die Schuldigen reichten vom vornehmen Edelmann bis zur unglücklichen, kleinen Jungfer. Es waren Briefe von verbotener Liebe, Schuldgeständnisse, Berichte leichtfertig ausgestoßener Drohungen und jämmerlicher Verderbtheit. Sie waren gesammelt von abgewiesenen Liebhabern, gekränkten Dienstboten und bezahlten Spitzeln und jedes Schriftstück war eine Waffe in der Hand des Ehrenwerten. Hier lag die Grundlage seiner Macht, ein Zündstoff, der die ganze Stadt in Brand stecken konnte.
Jermyn hatte nie über die Empfindungen seiner Opfer nachgedacht. Ohne Skrupel nahm er von denen, die mehr besaßen, aber die Kaltblütigkeit, mit der Fortunagra die Schwächen der anderen ausnutzte, um sie zu beherrschen, widerte ihn an.
Er zog alle Schubladen heraus und leerte ihren Inhalt in
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