AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Steinwürfeln schwebten die Gottheiten der Welt an der Wandung und sie hatte versucht, die Hüter ihres eigenen Volkes ausfindig zu machen. Der große Jäger, die Weberin, die Erdenmutter und jene geheimnisvolle doppelte Göttin, deren Namen sie trug.
Kerzen und Räucherwerk hatten in den Jahrhunderten einen öligen Rußschleier über die Bilder gelegt, nur hier und da blitzte es golden. Trat man aus dem Gleißen des Sommertages in den gewaltigen Rundbau des Tempels Aller Götter, sah man zunächst nichts anderes als eine schimmernde Lichtsäule, die durch eine Öffnung im Scheitel der Kuppel fiel. Erst nach und nach gewöhnten sich die Augen an die weihevolle Dämmerung. Die Götterbilder ruhten hinter vergoldeten, über und über mit Juwelen besetzten Türen, doch in der großen, kühlen Stille hatte Ninian die Anwesenheit der geistigen Mächte deutlich gespürt. Jermyn dagegen schien dafür nicht sehr empfänglich.
»Was heißt, du hättest dreimal einbrechen können?«, fragte sie ungehalten während sie durch die Vorhalle gingen. »Wenn du die Götter berauben willst, kannst du nicht mit mir rechnen.«
»Warum nicht?«, er zuckte die Schultern. »Mir haben die Götter nicht geholfen, früher, als ich Hilfe gebraucht hätte – ich bin ihnen nichts schuldig. Schau, es wäre ganz einfach. Man klettert über die Kuppel zu der Lichtöffnung, hangelt sich an diesen komischen Vertiefungen entlang ...«
»Kassetten sind das«, fiel Ninian ihm ins Wort, »Vitalonga hat mir Zeichnungen gezeigt.«
»Meinetwegen – jedenfalls müsste man sich über die Bilderwand abseilen, die du so angestarrt hast ...«
»Ich habe sie nicht angestarrt!«
»Doch. Die Klunker in den Türen hast du nicht angeschaut. Dabei würde sich das lohnen.«
»Ich breche nicht in einen Tempel ein.«
»Aber du liegst mir ständig in den Ohren, dass wir endlich einen neuen Einbruch machen.«
»Jermyn!«
Sie hatte das Abenteuer bei Fortunagra nicht vergessen. Am Anfang war ihr das Unrecht ihres Tuns noch sehr gegenwärtig gewesen, aber in dem Maß, in dem sich die Verworfenheit des Edelmannes enthüllt hatte, war ihr Unbehagen verblasst. Sie hatte sogar Gefallen daran gefunden, sich mit solch einem mächtigen Gegner zu messen und da sie nun einmal das Schicksal einer Diebin gewählt hatte, war es wohl das Beste, sich so schnell wie möglich an dieses Leben zu gewöhnen. Es schien ihr wichtig, sich Jermyns Geschick und seine Kaltblütigkeit zu erwerben, dennoch berührte es sie peinlich, wenn er so unverblümt davon sprach.
»Schon gut, schon gut«, er hob beschwichtigend die Hände und sie musterte ihn misstrauisch.
»Du machst dich lustig über mich.«
Er grinste. »Vielleicht. Man könnte natürlich auch das Gold da oben abkratzen, es ist noch ganz neu. Als Vater Dermot mich aus Dea wegschleppte, war nichts davon zu sehen.«
Sie waren in die Sommerhitze des Vorplatzes hinausgetreten und er deutete zu dem gewaltigen Giebel über ihnen. Der vergoldete Fries flammte in der Sonne, geblendet wandten sie dem Tempel den Rücken und schlenderten zum Nordrand des Platzes, wo die Paradeallee begann, die zum Patriarchenpalast und weiter zum Volksplatz am nördlichen Stadttor führte. Wie der Tempel war sie in bestem Zustand und erinnerte beinahe an die glorreichen Tage als Dea die Welt beherrscht hatte.
Nach langen Jahren des Niederganges und der Unordnung erlebte die Stadt eine neue Blüte unter der Herrschaft der Patriarchen. Seit der Großvater des jetzigen Fürsten vor drei Menschenaltern die Macht an sich gerissen hatte, regierten sie die brodelnde, unruhige Stadt. Rücksichtslos und berechnend, aber klug, hatten sie erkannt, dass freier Handel und ein leidlich zufriedenes Volk ihre Herrschaft besser stützten als grausame Tyrannei.
Sie ließen sich vor allem von ihren eigenen Zielen und denen ihrer Anhänger leiten und viele Menschen lebten und starben in dem Elend, das Jermyn gekannt hatte. Aber der Hunger entvölkerte nicht mehr ganze Stadtviertel, die marodierenden Räuberbanden und Söldnertrupps waren verschwunden. In vielen Vierteln konnte man sich nachts halbwegs sicher bewegen, da die Bürger eigene Wachmannschaften patrouillieren ließen. Selbst die Stadtwache war zuverlässiger geworden, seit Duquesne die Führung übernommen hatte.
Die Patriarchen, obwohl selbst Emporkömmlinge, stützten sich auf die alten Familien wie die Castlerea, die ihre Abstammung bis zu der legendären Stadtgründung zurückverfolgen konnten, und mehr
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