AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Bretterverschlag.
»Gostj, Vitali«, rief er hinein und hielt die Tür für Jermyn auf. Hinter ihm schloss er sie, schob den Stuhl davor und setzte sich in der gleichen Haltung wie zuvor, ohne Ninian eines Blickes zu würdigen. Sie lehnte sich an die Wand und sah sich in dem düsteren Gelass um. Weiße Kalksteinplatten bedeckten die Wände. Auf jeder Platte war ein Name eingraviert und darüber ein Kranz von Blättern. Einige trugen noch Spuren von Vergoldung, aber nur eine Inschrift glänzte wie neu im Fackellicht. Es war die letzte in der Reihe und Ninian trat näher, um sie zu entziffern.
VITALI SCYTOS – DER BULLE
Meister aller Klassen
im 37. Jahr des Patriarchen Cosmo Politanus
Dea 1458
Seit sechs Jahren war der Bulle der beste Ringkämpfer der Stadt.
Ninian fuhr zusammen, als es hinter ihr grollte: »Wirrd bald ein neues Schild da hängen. Is bitter nach so viele Jahre, aber sie machen uns kaputtt. Dauert nicht mehr lange!«
Überrascht sah sie sich um, aber der Verwachsene hatte die Lippen fest zusammengepresst und rührte sich nicht mehr. Sie nahm ihre Wanderung wieder auf. Namen vergangener Meister, die weit über die Zeit der Patriarchen hinaus in die Vergangenheit reichten.
Sie reckte sich, um die Tafeln der oberen Reihe anzusehen und stieß einen leisen Pfiff aus. Die Schriftzüge waren kaum noch zu lesen, aber sie konnte den Namen eines der letzten Kaiser entziffern.
»Man hatt sie rrüber gebracht aus dem Großen Zirkus«, rumpelte es wieder, »wo sie hingen im Hauptgang. Die Zuschauer haben Weihrrrauch vor ihnen verbrrannt und Opferwein vergossen, damals achtete man die Kämpfer noch. Als einzigste haben sie dem Kaiser in die Augen gesehn, wenn sie ihn grrrüßten, bevor sie in den Tod gingen, und wenn sie tapfer gestorben sind, hat man ihre Namen in der Halle der Götter in die Wand gemeißelt, auf dass sie niemals vergessen werden.«
Er versank in Schweigen. Ninian schauderte vor der Last der Jahrhunderte, die auf diesem Ort lag.
Im nächsten Moment erscholl ein Wutschrei hinter der Tür. Der Verwachsene fiel vom Stuhl und Ninian schlug mit dem Kopf gegen die Platte, die sie betrachtete. Sie presste die Hand an die Stirn und stürzte zur Tür. Das Gebrüll schwoll an, Witok rappelte sich hastig auf und ihre Hände stießen an der Klinke zusammen. Sie maßen sich böse.
Witok hatte die Hand zur Faust geballt, sie sah ihm an, dass er sie niederschlagen würde, Frau hin, Frau her. Das kalte Feuer prickelte in ihren Fingerspitzen, als das Gebrüll ebenso plötzlich endete wie es begonnen hatte.
»Jermyn, ist alles in Ordnung?«
Wie ein Echo folgte Witoks Stimme: »Vitali, geht es dirr gutt?«
»Ja, ja, schon gut«, erklang es einstimmig von drinnen, dann herrschte Stille.
Die beiden vor der Tür gaben widerwillig die Klinke frei und zogen sich auf ihre vorigen Plätze zurück, aber sie behielten sich wachsam im Blick.
Eine ganze Weile geschah nichts und Ninian wurde unruhig. Gerade als sie erneut nach Jermyn rufen wollte, flog die Tür auf und er kam heraus, unverletzt und sichtlich zufrieden. Witok stemmte sich hastig hoch und versuchte in die Zelle des Bullen zu spähen, aus der kein Laut drang. Jermyn machte ihm höflich Platz.
»Geh nur rein und hör dir an, was ich ihm vorgeschlagen habe.«
Er lachte ein wenig, als er den drohenden Gesichtsausdruck des Mannes sah. »Keine Angst, ihm ist nichts geschehen.«
Witok achtete nicht auf ihn und die Tür fiel krachend hinter ihm zu.
»Was war da drinnen los?«, fragte Ninian, als sie durch den Gang zurückgingen.
»Nichts weiter. Er wollte nur losrennen, um Fortunagra das Genick zu brechen. Es wäre ihm nicht gut bekommen, die Männer des Ehrenwerten sind gut bewaffnet und gegen kalten Stahl kann auch ein Meisterringer nichts ausrichten. Ich hab ihm etwas Besseres vorgeschlagen und ich hoffe, Witok wird ihm gut zureden, der hat 'nen klugen Kopf auf seinem Buckel.«
»Zu was soll er ihm gut zureden, Jermyn? Was hast du ihm vorgeschlagen?«, fragte sie wieder, aber er grinste nur selbstgefällig, während sie auf die Tribüne kletterten.
In der Arena rangen jetzt mehrere mindere Kämpfer miteinander. Zwerge watschelten ihnen zwischen die Beine, um sie zu Fall zu bringen und die Zuschauer mit Verrenkungen und obszönen Gesten zu erheitern.
Die Leute achteten nicht besonders auf die Kämpfe, sie unterhielten sich oder bewarfen die Zwerge mit den Schalen gesalzener Baumnüsse. Die Kleinwüchsigen kreischten bei jedem Treffer
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