AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
ungerührt, »wenn wir im Haus der Weisen nicht durch die Kletterei zusammengekommen wären, hätte ich dich immer gehasst.«
Sie richtete sich auf. »Warum? Du kanntest mich doch nicht.«
»Ich hab euch alle gehasst, nein, dich nicht. Nach dir hab ich mich gesehnt, seit wir uns an der Wegkreuzung das erste Mal begegnet sind. Aber es hat weh getan wie der Hass, den ich für die anderen empfand. Und du, was dachtest du, als du mich zum ersten Mal gesehen hast?«
Gespannt sah er in ihr Gesicht, das als heller Fleck über ihm hing.
»Ich weiß nicht, du warst irgendein Junge. Oh ja, deine Haare fielen mir auf, Rothaarige sind selten im Gebirge, aber ich fürchte, als wir durch das Tor ritten, hatte ich dich schon vergessen.«
»Ich weiß, als wir uns ansahen, hab ich es wie einen Stich gespürt, hier«, er nahm ihre Hand und legte sie auf sein Herz, »dein Blick ging durch mich hindurch als sei ich Luft, ich fühlte mich wie das letzte Stück Dreck, was ich ja war«, er drückte ihre Hand so hart, dass sie zusammenzuckte. »Und dann waren die anderen da. Quentin, der Bauerntölpel und Donovan. Ausgerechnet dieses Weichei kannte dich und tat schön mit dir und beide sahen auf mich herab und du ...«
»Au, Jermyn, meine Hand. Ich habe nicht auf dich herabgesehen«, sagte sie schnell. »Ich fand dich seltsam, du hast mir leid getan, weil du dich durch dein unmögliches Benehmen selbst ausgeschlossen hast.«
»Leid getan hab ich dir, na wunderbar«, knurrte er, nicht besänftigt.
»Ja, bis ich gesehen hab, wie du den Alten Turm hinaufgeklettert bist, und dir nachgegangen bin. Als wir uns da oben trafen, war plötzlich alles anders, nicht wahr? Nur habe ich lange gebraucht, um zu begreifen, warum es anders war und wollte nicht glauben, dass ... dass du mir lieber bist als jeder andere Mensch auf der Welt.«
»Bin ich das, Süße?«, flüsterte er und dann sprachen sie nicht mehr.
Ninian bestand darauf, den Tempel Aller Götter zu besuchen, solange die heiligen Statuen zu sehen waren, und am Tag, bevor die Türen geschlossen wurden, betraten sie Hand in Hand den gewaltigen Raum.
Es war noch früh und die wenigen Andächtigen verloren sich im Dämmerlicht. In dem lanzenförmigen Sonnenstrahl, der schräg durch die Kuppelöffnung fiel, tanzten winzige Staubkörnchen und die feinen Schwaden des Räucherwerks, das in einer goldenen Schale auf dem Altar glühte. Es brannten keine Kerzen, aber ein zarter Lichtschein hing über den Götterbildern. Sie gingen langsam an den geöffneten Altären vorbei und selbst Jermyn blieb nicht unberührt von der Majestät der stillen Figuren. Alle waren aufs kostbarste geschmückt, manche aus purem Gold gefertigt, andere aus durchscheinenden Steinen geschnitten. Geschnitzte hölzerne Stelen waren in golddurchwirkte Stoffe gekleidet und mit schweren goldenen Ketten behangen. Vor einigen Schreinen stand nichts anderes als eine Säule aus Marmor, weiß, schwarz oder bunt geädert. Diese Gottheiten wurden nicht mit Namen genannt, sie waren tabu und ihre Riten geheim. Einer Säule aus rot geädertem Porphyr erwies Jermyn eine flüchtige Referenz. Ninian fragte nicht nach dem Namen der Gottheit.
Vor der uralten Figur der Liebesgöttin aber, die unter der Last des Goldes, der kostbaren Stoffe und Juwelen nicht mehr zu sehen war, blieben sie stehen und verneigten sich Hand in Hand. Sie hatten allen Grund der Göttin zu danken.
Schließlich kamen sie zu einer einfachen, aus dunklem Holz geschnitzten Figur, die nur mit einem Schleier geschmückt war. Ein Schatten fiel über Ninians Gesicht und ihre Finger zuckten in Jermyns Hand. Sie machte sich los, legte beide Hände an die Stirn und verneigte sich tief.
Jermyn schien es, als habe sie sich weit von ihm entfernt und missmutig betrachtete er das Götterbild. Ein schwacher, kühler Schimmer ging von dem Schleier aus. Das Licht flimmerte, seine Augen begannen zu tränen, der Glanz nahm ihn gefangen.
Er spürte Ninians Hand in der seinen.
»Komm, es ist nicht gut, zu lange auf einen Sternenschleier zu schauen.«
Später, als ihr Kopf an seiner Brust lag und er durch die Maueröffnung in den bestirnten Nachthimmel starrte, fragte er: »Was war das für ein Ding?«
»Hm?«
Sie rührte sich verschlafen und er wiederholte ungeduldig: »Die Statue im Tempel trug einen Schleier und du sprachst von einem Sternenschleier.«
»Ach, das weißt du nicht?«, sie gähnte, »die Weberin wird in meiner Heimat verehrt, sie ist die besondere
Weitere Kostenlose Bücher