AvaNinian – Erstes Buch (German Edition)
Pilze in einem feuchten Sommer waren elende Hütten emporgewachsen, bis sich mehr Menschen hier drängten als in ungleich größeren Stadtvierteln. Das Wilde Viertel wurde es genannt und es war gefährlich, den Fuß hineinzusetzen. Seine Bewohner hatten ihre eigenen Gesetze und selbst die Gefolgsleute der mächtigen Patrone mieden die krummen Gassen. Jermyn hatte es nicht betreten, seit er wieder in Dea war – es gab nichts zu holen und der Verfall widerte ihn an.
Der Mann mit dem goldenen Nagel schien indessen den Verfolger mehr zu fürchten als das Volk des Wilden Viertels. Er wollte um jeden Preis entkommen und verschwand zwischen den armseligen Behausungen. Einen stärkeren Ansporn brauchte Jermyn nicht.
Die aufgebrachten Bettler behinderten ihn. Drei oder vier Elendsgestalten hingen an seinen Armen, sie brüllten auf ihn ein und ihr Gestank raubte ihm fast den Atem.
Er vergeudete seine Kraft, wenn er versuchte sie abzuschütteln, und so senkte er seine geistigen Sperren. Ihre Entrüstung stank wie ihre ungewaschenen Körper, aber er öffnete seinen Geist und seine verzweifelte, angestaute Wut brach wie eine Feuersbrunst über sie herein.
Jammernd gaben sie ihn frei, um die Hände an die schmerzenden Schädel zu pressen und Jermyn schlüpfte zwischen ihnen hindurch.
Er verschloss sich und stürzte in die stinkenden, mit Unrat übersäten Gassen des Wilden Viertels. Von dem Mann war keine Spur mehr zu sehen und als Jermyn die ersten Hütten hinter sich hatte, blieb er stehen. Er zwang sich zu überlegen.
Schutz fand der Kerl nur bei seinem Patron, aber Fortunagra und seine Gefolgsleute waren bei den Bewohnern des Wilden Viertels beinahe noch verhasster als die Stadtwächter, niemand würde ihn hier verstecken.
Wild vor Ungeduld zerrte Jermyn an seinem Zopf. Wie schnell konnte der Goldnagel einen Unterschlupf finden? Im Nordwesten begrenzte der Fluss das Wilde Viertel, aber dort gab es keine Brücken. Im Nordosten endete es in einem Brachfeld, das die Bewohner der angrenzenden Straßen entschlossen gegen eine weitere Besiedelung verteidigten. Dort begann das Viertel der Rechtsgelehrten – Magister Priam, schoss es Jermyn durch den Kopf. Der Notar besaß ein Haus dort, das hatte er auf der Suche nach dem Mann mit dem Goldnagel ausgekundschaftet. Priam war Fortunagra treu ergeben, der Gejagte würde versuchen, sich dorthin durchzuschlagen!
Jermyn fluchte. Der Mann hatte unterdessen einen großen Vorsprung gewonnen. Die Hütten standen willkürlich durcheinander, es gab keine geraden Wege, keinen Plan. Das ganze Viertel glich einem Irrgarten und seine Aussichten, den Flüchtenden zu finden, waren gering. Sein Blick wanderte nach oben. Die niedrigen Dächer begannen nur wenige Handbreit über seinem Kopf. Einem Irrgarten konnte man nur von oben beikommen ...
Er lächelte böse. Die Ratte wollte sich in diesem Labyrinth verstecken, aber er würde ihr den Weg abschneiden.
Mit einem Satz sprang er an die herabhängende Dachrinne und schwang sich hoch. Sie ächzte unter seinem Gewicht, aber sie hielt. Vorsichtig richtete er sich auf dem flachen Dach auf. Vor ihm lag ein Flickenteppich aus Holzbrettern, Strohbündeln und Filzmatten. Die Höhe der Hütten war ungefähr gleich, niemand wagte es, mehr als zwei Stockwerke übereinander zu setzen. Zu seiner Rechten ragten in einiger Entfernung eine Reihe größerer stattlicher Gebäude auf – die Straße der Rechtsgelehrten.
Gebückt lief Jermyn über die Latten und sprang auf den nächsten windschiefen Bau. Bei dem Aufprall schwankte er bedrohlich, die Bretter bebten unter seinen Sohlen. Er hastete so schnell wie möglich über sie hinweg, um den zerbrechlichen Aufbau nicht zu stark zu belasten.
Das nächste Dach lag höher. Mit vorgestreckten Armen sprang er an die Dachkante, krallte sich fest und zog sich auf die schräg abfallende Fläche. Das ganze Haus wackelte, er schlitterte mehr als dass er lief. Im nächsten Moment brach er mit dem rechten Fuß bis zum Knie durch verrottete Strohbündel. Wild mit den Armen rudernd warf er sich nach vorne, fühlte einen festen Balken unter dem linken Fuß, stieß sich mit aller Kraft ab und kam frei.
Die Gewohnheit, in luftiger Höhe das Gleichgewicht zu halten, half ihm, er hatte gelernt, mit den Füßen zu sehen, sonst hätte sein Lauf über die Dächer leicht ein schmähliches Ende in einer der jämmerlichen Hütten genommen. Springend und rutschend arbeitete er sich bis zur letzten Reihe vor. Die Schneise der
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