AvaNinian – Zweites Buch
Jungfer erscheinen würde. Darum hatte sie ja die Kammer neben Isabeaus Schlafgemach bezogen. Sie mussten sich gegenseitig beim Ankleiden helfen, wie sie es als junge Mädchen getan hatten. Heißes Wasser für die Badezuber gab es auch nicht, es sei denn, man konnte einen der persönlichen Diener des Patriarchen bestechen, aber das Glück war ihr an Isabeaus Kartentisch nicht hold gewesen. Mit flüchtigem Unbehagen dachte sie an das Kleid, das bei Kaye auf sie wartete, aber dann schob sie den Gedanken entschlossen beiseite. Bis jetzt war es ihr noch immer gelungen, ihre Gläubiger mit Versprechungen und Drohungen zu beschwatzen.
Gähnend streckte sie sich. Es war kühl im Zimmer und sie sprang aus dem Bett, um nach dem Feuer zu sehen. Es schwelte noch, sie stocherte es auf und legte Holz nach. Bei der ungewohnten Arbeit rutschte ihr das Hemd von den Schultern und sie schüttelte es ungeduldig ab, sie musste ohnehin ein neues anziehen. Als sie ihr Spiegelbild sah, zog sie eine Grimasse.
Es war ganz gut, dass heute keine Jungfer kam - Schenkel und Gesäß waren mit blauen Flecken und Kratzern übersät. Nur ihre Brüste waren makellos, darauf hatte sie geachtet, Kayes Robe hatte ein gewagtes Dekolleté.
Sie lauschte, aber in Isabeaus Gemächern rührte sich nichts und so kroch sie zwischen die Decken zurück, die noch die Wärme ihres Leibes bewahrt hatten. Mit wollüstigem Schauder rekelte sie sich in den seidenen Laken.
Dieser junge Paul! Er hatte allerhand gelernt bei seinem Gönner, aber im Gegensatz zu den meisten Männern, die auf der anderen Seite des Bettes schliefen, machte es ihm nichts aus, ein weibliches Wesen an seinen Erfahrungen teilhaben zu lassen. Wie überlegen er sich gebärdet hatte!
Margeau kicherte leise. Sie hatte ihn in dem Glauben gelassen, er habe sie vollkommen überwältigt mit seinen ausgefallenen Praktiken. Dafür hatte er sich mächtig ins Zeug gelegt und sie war auf ihre Kosten gekommen!
Und danach - sie richtete sich auf und runzelte die dünn gezupften Brauen in dem Bemühen, sich zu erinnern. Geprahlt hatte er, wie alle Männer es taten, um ihre Geliebte zu beeindrucken. Wirres, unglaubliches Zeug war es gewesen.
»Woher weißt du das alles?« , hatte sie schon halb im Schlaf gemurmelt und wieder hatte er geprahlt.
»Was glaubst du, was er alles tut, damit ich ihn machen lasse, was er will, und er zeigt gerne, wie schlau er ist!«
Sie setzte sich auf, mit einem Male hellwach. Wenn es stimmte, was er erzählt hatte - konnte man es nicht als Waffe verwenden? Eine schwache, schutzlose Frau musste nach jedem Mittel greifen. Und Isabeau, es würde auch Isabeau interessieren, gemeinsam waren sie stärker.
Margeau sprang aus dem Bett, wickelte sich hastig in ihr Morgenkleid und klopfte ungeduldig an die Tür zum Gemach der Fürstin.
»Isa! Isa, wach auf, ich hab Neuigkeiten.«
9. Tag des Saatmondes 1465 p.DC
am Tage
Der Morgen des ersten Feiertages blieb trübe und nasskalt. In vielen vornehmen und reichen Häusern drehte sich das Gesinde in seinen Betten zufrieden auf die andere Seite. Mit säuerlichen Mienen heizte die Herrschaft derweil selbst ein und bereitete die erste Mahlzeit des Tages, wenn sie nicht für schweres Geld die ungelenken Dienste gemieteter Tagelöhner in Anspruch nahm.
In freundlicheren Häusern tafelten Herrschaft und Dienerschaft unter gutmütigen Scherzen gemeinsam und in wenigen, sehr frommen Familien warteten der Herr und seine Gattin den Bediensteten auf und sahen demütig zu, wie diese ihr Mahl hastig in unbehaglichem Schweigen herunterschlangen.
Überall aber triumphierten die Kinder. Heute war ihr Tag: was sie auch anstellten, keiner würde sie schelten. Die klügeren Schulmeister hatten sich in ihren Kammern eingeschlossen, die anderen ließen mit zusammengebissenen Zähnen und mühsamem Lächeln die Spottreden, Unverschämtheiten und Handgreiflichkeiten ihrer Zöglinge über sich ergehen. Trieben sie es zu wild, dachte man: »Wartet nur, übermorgen ...«
Trotz des schlechten Wetters zogen es die meisten Eltern vor, mit dem ungebärdigen Nachwuchs durch die Straßen zu wandern, wo es Buden gab, Karussells und Schaukeln, Lotterien und Tierschauen, um die Kinder zu ergötzen. Zauberer und Gaukler bemühten sich eifrig um die kleinen Zuschauer und sammelten ebenso eifrig ihr Scherflein von den geplagten Eltern ein. Und schließlich wurden unübersehbare Mengen Zuckerfäden gesponnen, Zuckerstangen getaucht, knusprig gebratene Nüsse und
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