AvaNinian – Zweites Buch
sich, umringte sie die aufgeregte Menge und Wag machte rücksichtslos von seinen spitzen Ellenbogen Gebrauch, um zu ihnen zu gelangen. Neben dem reglosen Bündel fiel er auf die Knie, zerrte den Stoff beiseite und in der Sorge um Kamante vergaß Ninian zunächst alles andere.
Das Gesicht des Mädchens hatte eine aschgraue Farbe angenommen, unter dem rechten Auge breitete sich eine Schwellung aus und aus einem Riss in der Haut sickerte Blut. Ninian hielt Wag zurück, der sich schluchzend über seinen Schützling beugte und ihr Gesicht in seine Hände nehmen wollte.
»Warte, rühr sie nicht an. Ihr Genick, er hat sie geschlagen ...«
»Aber sie lebt doch, nich wahr?«, jammerte Wag. »Sag, dass sie lebt. Patron, sie lebt doch, oder?«, wiederholte er verzweifelt, als Jermyn neben ihn trat. Ninian spürte flüchtig seine Hand auf ihrer Schulter, dann hockte er sich neben sie und legte vorsichtig seine Fingerspitzen an Kamantes Schläfe. Eine Weile verharrte er so mit geschlossenen Augen. Das Stimmengewirr der Umstehenden sank zu gespanntem Murmeln. Wags angstvolle Augen wanderten zwischen Kamantes stillem Gesicht und Jermyns harten Zügen hin und her und Ninian schien es eine Ewigkeit, bis er endlich die Augen öffnete.
»Sie lebt, aber ich weiß nicht, wie schwer sie verwundet ist. Oi, steht nicht da und glotzt«, schrie er. Wag biss sich auf die Lippen und Tränen liefen über seine Wangen, während er hilflos auf das Mädchen starrte.
»Schafft einen Wagen oder Karren her, aber ein bisschen schnell. Ist ein Bader unter euch?«
Bewegung kam in die Menge; ein paar Leute liefen los, bereitwillig genug, auch ohne den Stoß in ihre Köpfe, mit dem Jermyn seinen Worten Nachdruck verliehen hatte. Ein feister Mann mit geölten, schwarzen Locken schob sich nach vorne.
»Ich bin Einrenker, wenn’s beliebt«, sagte er wichtig und Jermyn nickte ihm ungeduldig zu.
»Na, bestens, Meister, schaut nach, ob sie verletzt ist, los, los, macht schon!«
Der Mann zögerte, abschätzend musterte er das schwarze Mädchen, warf einen bedauernden Blick auf seine weiten, brokatenen Hosen und das kotige Pflaster.
»Hm, heute ist Feiertag und«, er räusperte sich umständlich, »meine Dienste sind nicht billig, vielleicht solltet Ihr doch einen einfachen Bad ...«
Er verstummte jäh, als Jermyn mit glänzenden Augen zu ihm aufsah.
»Lieber Freund, macht Euch darum keine Sorgen - ich hatte nicht vor, Euch zu bezahlen«, sagte er sanft. Ninian aber richtete einen drohenden Finger auf den Einrenker.
»Macht, was er sagt, sonst könnt Ihr Euch gleich selbst kurieren!«
Der Mann schluckte, zog ein seidenes Tüchlein aus der Rocktasche, breitete es neben Kamante auf die nassen Steine und ließ sich ächzend darauf nieder. Behutsam schob er seine dicken Finger unter Kamantes bunte Zöpfe und tastete Kopf und Nacken ab. Während der Untersuchung verschwand der aufgeblasene Ausdruck aus seinen Zügen und mit unerwarteter Zartheit glitten seine Hände über ihre Glieder und schließlich sah er auf. Als er Jermyns schwarzem Blick begegnete, mochte er wohl Erleichterung über den guten Bescheid empfinden.
»Ich finde keine Knochenbrüche, sie scheint nur betäubt, aber hier«, er hob ihre rechte Hand in die Höhe, die zu einer harten Faust geballt war, »hier hat sie sich verkrampft, als hielte sie etwas fest ... «
Wag hatte nur auf den ersten Teil seiner Rede gehört. Er stieß den Mann grob zur Seite und warf sich auf seinen Schützling.
»Kamante, mein Täubchen, mein Kindchen, wach auf, hörste? Schau mich an, mein Schätzchen, ich bin’s doch, Wag, hörste, hier is Wag, wach auf, Liebchen, ich schimpf auch nich, dass de weggelaufen bis, ich versprech’s. Kamante!«
Liebevoll tätschelte er ihre Wangen, streichelte die bunten Zöpfe und fächelte ihr mit einem Zipfel des schwarzen Tuches Luft zu.
Ob es seine Zärtlichkeiten waren, das Versprechen, sie nicht zu schelten oder ob sie einfach aus ihrer Ohnmacht erwachte - Kamantes Lider flatterten, ihre Nasenflügel weiteten sich und zu Wags Entzücken schlug sie die Augen auf. Beim Anblick der vielen fremden Menschen weiteten sie sich furchtsam.
Dann erkannte sie die drei vertrauten Gesichter und wagte ein zaghaftes Lächeln. Es wich einem beschämten Ausdruck, als Wag schniefte und sich mit dem Ärmel über die Augen fuhr. Aber er sagte kein böses Wort und von seinem Arm gestützt richtete sie sich langsam auf.
Ihr Blick glitt zu Ninian und Jermyn und wieder lächelte sie
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