AvaNinian – Zweites Buch
geleistet, es gab keine Kratzer, nichts ließ ahnen, dass der Kasten geöffnet worden war.
Als er wieder herunterkam, hatte einer der Träger Ciske aus der Sänfte gehoben. Der ältere Mann, der kein Wort gesprochen hatte, saß jetzt zusammengesunken dort. Tartuffe nahm Babitt den Kasten aus der Hand. Misstrauisch betrachtete er ihn von allen Seiten.
»Habt ihr ihn geöffnet?«
Babitt, der dem Träger das Mädchen aus den Armen gerissen hatte, erwiderte seinen Blick fest.
»Nein, dazu sind wir nicht mehr gekommen. Er ist so, wie ich ihn aus der Schatzkammer mitgenommen habe. Es wimmelte plötzlich von Wachen, obwohl es doch hieß, wir müssten uns deswegen keine Sorgen machen. Merkwürdig, was?«
Tartuffe zuckte die Schultern.
»Gewiss, aber ihr habt es ja geschafft. Leb wohl, Babitt.«
Er reichte seinem schweigenden Gefährten den Kasten, stieg selbst in die Sänfte und schloss die Tür. Die Träger ergriffen die Tragholme und rannten davon, als seien die Dämonen der Hölle hinter ihnen her.
Babitt sah ihnen nicht nach, er trug Ciske, fest an sich gepresst, in seine Wohnung und legte sie sanft auf sein Bett. Über sie gebeugt, streichelte er ihre Wange und rief sie zärtlich an.
»Ciske, Liebe ... Liebste!«
4. Kapitel
Ninian schnappte schluchzend nach Luft. Dicht hinter sich hörte sie die Verfolger keuchen. In ihrem wütenden Eifer behinderten sie sich in dem engen Gang zwischen den mannshohen Lederstapeln, aber lange würde es nicht mehr dauern, bis die beiden Stadtwächter sie erreichten ...
Sie presste die Faust in die Seite, ihre Beine schmerzten und jeder Atemzug brannte in ihrer Kehle. Von der hochgelegenen Tür hatten sie am anderen Ende der Halle den Durchgang zu den hinteren Lagerräumen gesehen. Dort musste es ein Tor geben, aber in dem Labyrinth von aufgetürmten Häuten hatte sie den Überblick verloren.
Ein Luftzug warnte sie, sie duckte sich und die Hand griff ins Leere, aber schon war der zweite Wachmann über ihr.
»Ich hab sie. Aah ...«
Der triumphierende Aufschrei verwandelte sich in gepeinigtes Gurgeln, als Jermyn aus einem Seitengang heraus in ihn hineinrannte und ihm den Bleibeutel ins Gesicht schmetterte. Der Mann ging zu Boden, Blut quoll aus seiner Nase, sein Gefährte stolperte über ihn und krachte in das brettharte Leder. Jermyn sprang über die Gestürzten hinweg, ergriff Ninians Arm und riss sie weiter.
»Ich kann nicht mehr ... «
»Quatsch nich!«
Sie rannten, rannten ...
Wachleute kamen von hinten und aus den Seitengängen, der Bleibeutel zuckte auf und nieder. Bösartig zischend bohrte sich eine Hellebarde vor ihnen in einen Haufen schwarzer Häute. Jermyn krallte sich hinauf und zerrte Ninian zu sich hoch.
»Mein Knöchel ...«
Mit seinem ganzen Gewicht hing der Verfolger an ihrem Fuß und versuchte, ihn aus dem Gelenk zu drehen. Sie schrie, Jermyns Absatz traf die Stirn des Mannes und brüllend ließ er Ninian los.
Ein Hagel von Pfeilen prasselte gegen das Leder, Ninian spürte einen brennenden Schmerz am Oberarm, aber sie hatte keinen Atem zum schreien. Sie sprangen in den nächsten Gang hinunter. Er verzweigte sich, aber während des kurzen Moments auf dem Stapel hatten sie gesehen, dass sie sich links halten mussten.
Für einen Augenblick gelang es ihnen, aus dem Blickfeld der Verfolger zu entkommen. Sie warfen sich hinter einen Turm aus dicken Lederplatten.
»Kannst du die nich einstürzen lassen?«, keuchte Jermyn.
Ninian schüttelte den Kopf. »Zu lange«, schluchzte sie, »dauert zu lange, in die Erde einzudringen ...«
Triumphgeheul unterbrach sie, ein schwitzendes Gesicht tauchte über ihnen auf.
»Hierher, zu mir ...«
Der Wachmann schob sich zwischen das Leder, aber behindert durch seinen Wanst und die ausladenden Ärmel blieb er in der wenige Hand breiten Lücke stecken, während sie sich auf der anderen Seite hinauszwängten.
Vor ihnen lag der Durchgang zur zweiten Halle. Hier waren die Stapel niedriger und zu ihrer Erleichterung erblickten sie ein Tor, in dem eine kleinere Tür offen stand.
Jermyn warf Ninian einen Blick zu, ihr Gesicht war mit Ruß und Tränen verschmiert, die Augen weit aufgerissen, die Unterlippe geschwollen und blutig. Der Ärmel ihres Kittels hing herunter, Blut sickerte aus einem langen Riss in ihrem Arm. Sie stand kurz vor dem Zusammenbruch und er bekam Angst. Auch er fühlte sich am ganzen Leib wund, sein Schädel hämmerte und pochte, aber er wurde nicht zum ersten Mal in seinem Leben gejagt.
Er griff nach
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