AvaNinian – Zweites Buch
sich eine Süßwarenhändlerin, die gewürztes Harz und anderes Naschwerk in den Bogengängen des Alten Zirkus feilbot.
Ihre Nachbarin lockerte mit einem Stöckchen die geschnittenen Fruchtpasten auf ihrem Brett.
»Ich hab mir heut auch mit meinen Alten gezankt. Warum soll’s denen anders gehn als uns, Gesche?«, grinste sie und entblößte braune Zahnstümpfe. »He, Patron«, rief sie schrill, »wie wär’s mit was Süßem für das Fräulein? Das besänftigt!«
Die andere versetzte ihr einen Rippenstoß.
»Halt’s Maul, mit dem is nich zu spaßen, der verpasst dir übles Schädelweh, eh de dir versiehst.«
Die jungen Leute ließen nicht erkennen, ob sie den Zuruf verstanden hatten. Kurze Zeit später traten sie aus dem Schatten der großen Ruine und näherten sich einem langgezogenen, niedrigen Holzbau, an dessen östlichem Ende sich ein achteckiges Zelt erhob.
»Scyten-Schule« stand in ungelenker Schrift auf einem Brett über dem Eingang, darunter hingen breite, leuchtend gelblich-rote Stoffstreifen schlaff und trübselig in der feuchten Luft. Gegen die anderen Schulen wirkte der Bau schäbig, aber der Andrang vor seinen Toren war nicht geringer.
Hier hatte sich der Bulle mit seiner neu gegründeten Schule vorläufig niedergelassen. Jermyns Angebot, ein neues, dauerhaftes Gebäude im weniger bebauten Süden der Stadt zu errichten, hatte er höflich, aber bestimmt abgelehnt. Er wollte im Dunstkreis des Großen Zirkus bleiben, auch wenn er dafür mit einer ehemaligen Seilerei und einer behelfsmäßigen Arena unter einer Zeltbahn vorlieb nehmen musste. Die Zuschauer störte es nicht, sie strömten in Scharen zu den Übungskämpfen, um zu sehen, ob der Bulle als Gladiatorenmeister ebenso erfolgreich war wie als Kämpfer. Und auch hier machte man dem Pärchen hastig Platz. Jermyn deutete auf die Tücher, die sich in feuchter Umarmung um die Schultern der Eintretenden legten.
»Er war nicht von der Farbe abzubringen.«
Ninian verzog nur das Gesicht. Wortlos stieg sie die Stufen hinauf und er folgte ihr missmutig.
Seit sie Jermyn und Kamante gestern ertappt hatte, war sie schlecht auf ihn zu sprechen und bisher hatte sich ihre lästige Empörung nicht gelegt.
Vor einiger Zeit hatte er entdeckt, wie flink Kamantes Finger waren.
Sie hatte den Übungsraum gesäubert, eine Arbeit, die Wag ihr nur auftrug, wenn er seinen reizbaren Patron unterwegs wusste. Aber an jenem Tag war Jermyn unvermutet zurückgekommen. Eine ganze Weile hatte er beobachtet, wie Kamante mit ihrem Flederwisch um den Schellenmann herumstrich, mit ihm plapperte und ihm zuletzt ihre langen, baumelnden Ohrringe an die Mütze heftete, ohne dass eines der vielen Glöckchen einen Laut von sich gab.
»Oi, Kamante, das machst du nicht schlecht.«
Sie war so heftig zusammengefahren, dass der ganze Schellenmann in Aufruhr geraten war, aber Jermyn hatte das entsetzte Mädchen an der Flucht gehindert. Nachdem Kamante den Schrecken überwunden hatte und begriff, was er wollte, hatte sie sich so geschickt angestellt, wie er gehofft hatte. Seit diesem Tag hatte er sie immer wieder gerufen, um ihr Ganevs Kniffe beizubringen. Er hatte sich nicht viel dabei gedacht, die Geschicklichkeit des Mädchens gefiel ihm und es befriedigte ihn, den Lehrmeister zu spielen. Sie war begeistert darauf eingegangen und sie hatten ihren Spaß gehabt, aber in stillschweigender Übereinkunft weder Ninian noch Wag in ihr Tun eingeweiht. Und ihre Zweifel waren berechtigt gewesen.
Jermyn seufzte, Ninians zornige Stimme klang ihm noch in den Ohren. Sie war auf dem Weg zu Ely ap Bedes Haus umgekehrt, weil sie etwas vergessen hatte: ein kleines Geschenk für Violetta, ganz ehrenhaft bei einem Silberschmied erworben.
Jermyn hatte Kamante umfasst und ihre Hand in eine Innentasche des schäbigen Rockes geführt, als Ninian in den Übungsraum geplatzt war. So ertappt mussten sie ausgesehen haben wie das leibhaftige schlechte Gewissen und zuerst hatte Ninian sie fassungslos angestarrt. Aber sie hatte sehr schnell verstanden, worum es ging, und ihr Gesicht hatte den verhassten, steifen Ausdruck angenommen.
»Geh hinunter, Kamante!«
Das Mädchen hatte sich mit gesenktem Kopf an ihr vorbeigedrückt. Dann war er an der Reihe gewesen.
»Jermyn, was tust du? Du bringst ihr doch wohl nicht bei, fremde Taschen zu leeren?« Als sie keine Antwort bekam, hatte sie zornig mit dem Fuß aufgestampft. »Wie kannst du nur so etwas machen? Du hältst sie zum Stehlen an - willst du sie auf die
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