AvaNinian – Zweites Buch
Straße schicken und ihr dann ihre Beute abnehmen, wie man es mit dir gemacht hat?«
Jermyn hatte das Schuldbewusstsein unterdrückt und seine Stimme wiedergefunden:
»Red kein dummes Zeug, natürlich schick ich sie nicht auf die Straße. Aber sie ist sehr gewandt, hat flinke Finger, warum soll sie nicht für sich selbst arbeiten?«
»Kinder sollen nicht stehlen, sie kann andere Sachen mit ihren geschickten Fingern anfangen!«
»Ach ja? Was denn?«, auch er war wütend geworden. »Sie gehört nun mal zu uns und wir stehlen, hast du das vergessen? Vielleicht hat sie es ja eines Tages satt, unseren Dreck wegzumachen und unser Essen zu kochen. Oder vielleicht brechen wir uns eines Tages das Genick, was soll sie dann tun? So kann sie wenigstens gut Taschen ausräumen. Es gibt schließlich Schlimmeres für ein Mädchen, nicht wahr? Glaubst du, nur du darfst den schmalen Pfad der Tugend verlassen?«
Unter diesem Hieb war sie blass geworden und verstummt. Erbittert hatte sie die Fäuste geballt und war davongelaufen. Erst dann hatte ihm das Gewissen geschlagen, jedoch nicht wegen Kamante. Er hätte Ninian nichts Schlimmeres vorwerfen können ...
Am Abend hatten sie sich halbwegs versöhnt. Er hatte versprochen, den Unterricht abzubrechen, aber er war nicht in ihr Bett gekommen und so recht war die Sache noch nicht im Lot. Am Morgen in der Küche hatten ihn lange Gesichter empfangen. Wag kränkte es, dass Kamante Geheimnisse vor ihm hatte, und wie Ninian missbilligte er, dass sie krumme Wege lernte. Kamante aber schmollte wegen seiner Strafpredigt, weil sie bei Ninian in Ungnade gefallen war und weil die spannenden Unterweisungen ein solch ernüchterndes Ende gefunden hatten. Jermyn hatte seinen Kahwe so schnell getrunken, dass er sich den Mund verbrannte, und das Weite gesucht.
»Ich geh in die Scytenschule, muss mir die Neuerwerbungen des Bullen ansehen.«
»Sehr schön, ich begleite dich!«
Ninian hatte süß gelächelt bei diesen Worten, aber es war kein Versöhnungsangebot, sie wusste genau, warum er den Bullen lieber allein aufsuchte - der Gladiator machte allen hübschen Frauen den Hof, er konnte nicht anders.
Jetzt war sie in der Schule verschwunden und ließ sich von dem Bullen schöne Augen machen ...
Jermyn stieß mit finsterer Miene die Türen auf, als er seinen Namen hörte.
»He, Patron, Jermyn, wart, nimm uns mit!«
Er drehte sich um. Mule ruderte mit wuchtigen Armstößen durch die Menge, Knots schwamm in seinem Kielwasser und winkte aufgeregt.
»Oi, lasst sie durch!«
Ein Stirnrunzeln genügte, die Leute beeilten sich, den beiden Platz zu machen, und Jermyns Laune besserte sich. Als die beiden neben ihm standen, grüßte er freundlich genug.
Knots wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Danke, Patron«, keuchte er, »war ja kein Durchkommen. Morgen Abend wird’s noch schlimmer zugehn.«
Jermyn sah über die Köpfe der Menge. »Wo ist Babitt?«
Knots rümpfte die Nase.
»Auf unsere Bude«, erwiderte Mule, »er trauert ...«
»Jou, ’s is nich zum Aushaltn nich«, wetterte der kleine Mann. »Der reinste Wasserspeier is er geworden, unser Patron. Lacht nich, quatscht nich, nich mal Geld will er zähln un die armen Hähnerchen täten glatt verhungern, wenn wir nich wärn.«
»Vielleicht is ja bald aus mit die Vögelchen«, warf Mule betrübt ein. Jermyn hob fragend die Brauen und Knots verdrehte die Augen.
»Das is des Schlimmste. Stell dir vor, Patron, Babitt hat sich an die ältere Schwester von seiner Kleinen ’rangemacht, weil er meint, er is schuld, dass sie tot is. Jetzt fuhrwerkt das Frauenzimmer bei uns rum un meckert un die Vögel will se rausschmeißn, weil se Dreck machn, ach du je ...«
Die letzten Worte flötete er im Falsett und Jermyn grinste.
»Was sagt Babitt dazu?«
Knots schnaubte verächtlich. »Nix! Er hockt nur da un stiert vor sich hin, dann säuft er wieder un manchmal heult er un vor allem - er lässt sie tun, was sie will. Un du hast gesagt, Schwestern machn kein Ärger!«
Er sah Jermyn vorwurfsvoll an, als sei der schuld an ihrer misslichen Lage. Diesmal lachte Jermyn laut.
»Man lernt eben nie aus. Aber wenn’s euch tröstet, kommen wir nachher mit, um ihn aufzurütteln!«
Sie betraten die Schule und das Lachen verging ihm, als er am Ende des langen Ganges den Bullen in eifrigem Gespräch über Ninian gebeugt sah. Die stets nur unruhig schlummernde Eifersucht erwachte, doch da hob der Ringer den Kopf und sein Gesicht leuchtete auf. Mit einer
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