Avanti Amore - mein Sommer unter Italienern
dir? Hast du schon wesentliche Erkenntnisse über die Italiener gewonnen?«
»Allerdings.« Ich blicke mich um und werfe erneut einen Blick auf die Rennstrecke, auf der ich sitze. »Eine Erkenntnis ist zum Beispiel, dass die Italiener neue Autoprototypen auf Dächern testen. Ist das nicht verrückt?«
»Was? Ich kann dir nicht ganz folgen.«
»Ich sitze auf dem Dach der Lingotto-Fabrik und bin gerade über die ehemalige Fiat-Teststrecke spaziert.«
»Ach, du bist in Turin?«
»Ja. Als ich von dieser Anlage gehört habe, dachte ich, das sei ein Scherz.«
»Warum denn?« Raffaele scheint meine Überraschung nicht ganz nachvollziehen zu können. »Das ist doch eine ganz normale Strecke.«
»Na, stell dir mal vor, hier fliegt mal einer aus der Kurve ...«
»Dana. Das geht doch physikalisch gar nicht. Dafür ist die Kurve doch geneigt. Damit man eben nicht aus der Bahn fliegt. Das ist wirklich typisch Frau!« Er lacht.
Ach so.« Ich beschließe, lieber schnell das Thema zu wechseln. »Jedenfalls ist es toll hier oben. Der Blick ist der Wahnsinn. Echt beeindruckend.«
»Ja, Turin ist cool. Völlig unterschätzt. Warte erst, bis du die Innenstadt kennenlernst. Den Gebäuden sieht man den französischen Einfluss noch an, die Atmosphäre ist entspannt, und essen kann man auch ganz fantastisch. Schließlich kommt die Slow-Food-Bewegung aus dieser Gegend.«
»Slow Food? Was ist das denn?«
»Das ist eine Organisation, die sich dafür einsetzt, dass man beim Kochen Zutaten aus der eigenen Region verwendet. In deinem Hotel gibt es sogar ein Slow-Food-Restaurant. Solltest du mal ausprobieren.«
»Gute Idee. Schade nur, dass ich alleine unterwegs bin«, antworte ich und seufze.
»Wie, alleine? Ich dachte, du hättest am Comer See deine große Liebe gefunden. War der gute Herr vielleicht doch nicht so toll?« Raffaeles Stimme entnehme ich leichte Ironie.
»Nein, nein. Ich habe ihn gar nicht gefunden. Er lebt nicht mehr dort, die Familie ist nach Sizilien gezogen, und niemand konnte mir sagen, wohin genau. Aber ich werde ihn schon noch finden.«
»Na, da bin ich aber gespannt. Du, ich muss aufhören. Meine Schicht beginnt gleich. Kann ich dich in Ruhe zurückrufen?«
»Ja, klar«, antworte ich und bin ein klein wenig enttäuscht. Es hat gutgetan, mit jemandem zu plaudern, und ich hätte Raffaele gern noch weiter von meiner Mario-Recherche berichtet. Nachdem wir aufgelegt haben, mache mich auf den Weg in den historischen Stadtkern Turins. Und ich muss zugeben, Raffaele hat Recht. Turin gefällt mir auf Anhieb. Nachdem ich etwa eine Viertelstunde herumspaziert bin, erreiche ich die Piazza San Carlo. Am Rande des rechteckigen Platzes erheben sich Gebäude im Barock-Stil. Die Piazza selbst wird von einem Reiterdenkmal doiniert, das glänzend in der Sonne aufragt. Unter den Torbögen an der Südwest-Seite des Platzes betrete ich eine kleine Bar, in der ich kurz verschwinde, um auf die Toilette zu gehen. In den sanitären Örtlichkeiten dieser auch ansonsten durchaus nostalgischen Bar gibt es nur ein Stehklo, das aus zwei Haltegriffen an der Wand und einem im Boden eingelassenen Porzellanbecken besteht. Zwei vorgefertigte Trittfelder im Boden sollen dem Benutzer die optimale Hockposition anzeigen, in der er sein Geschäft verrichten kann, ohne sich selbst völlig zu besudeln. Angesichts der Tatsache, dass die Italiener schon sehr früh über gut funktionierende Abwasserkanäle verfügten, ist es schon sehr verwunderlich, dass diese Konstruktion bis ins 21. Jahrhundert überleben konnte. Aber angeblich sind diese Toiletten einfacher zu reinigen, werden weniger demoliert, und da sie auch nicht zum Verweilen einladen, sind sie bei den italienischen Barbesitzern immer noch beliebt.
Ein paar Gassen von der piazza entfernt entdecke ich ein Friseurgeschäft, das mindestens genauso altertümlich ist wie das gabinetto alla turca , das Stehklo. Der barbiere , der Friseur, ein älterer Herr in Jeans und Polo-Shirt, mit Brille und Schnurrbart, steht vor seinem Laden und beobachtet das Treiben auf der Straße. Ich trete näher, um einen Blick in den Laden zu werfen. Der Innenraum ist holzvertäfelt, die drei Friseurstühle vor den ovalen goldenen Spiegeln sind leer. Ein paar Alpezin-Shampoo-Flaschen stehen kreuz und quer auf der Ablage verteilt. Es wirkt so, als gäbe es das Geschäft schon seit den 50er-Jahren.
»Darf ich ein Foto von Ihrem Geschäft machen? Es sieht irgendwie besonders aus.«
» Grazie. Come no . Aber sicher.« Er
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