Avanti Amore - mein Sommer unter Italienern
dass die Erde wackelt«, sagt er zu seinem Nachbarn gewandt und strahlt. Auch ich muss lachen.
»Gibt es hier denn häufig Erdbeben?«
»Ja, in Italien bebt öfter mal die Erde. Aber abgesehen von dem schweren terremoto in L’Aquila 2009 verläuft es meistens harmlos. Machen Sie sich mal keine Sorgen. Sie können hier ganz gefahrlos durch die Stadt laufen.«
»Sicher?« Ich will gerade nachhaken, da fällt mein Blick auf die Fensterscheibe des Geschäfts, in der sich mein Gesicht spiegelt. Hallo Betty! Ich sehe wirklich aus wie ein anderer Mensch. Bevor der süße Natale noch meinen Unmut zu spüren bekommt, verabschiede ich mich höflich, solange mir das noch möglich ist. Etwas frustriert kehre ich in mein Hotel zurück und beschließe, dass mich jetzt nur eins trösten kann: Essen. Hatte Raffaele nicht etwas von einem Slow-Food-Restaurant gesagt? Ich streife eine Weile durch den Lingotto-Komplex, bis ich einen Stehitaliener entdecke, wo ich mich nach der kulinarischen Bewegung erkundige.
»Habt Ihr hier Slow-Food-Gerichte?«, frage ich interessiert. Der Kellner hinter dem Tresen guckt mich überrascht an.
»Extra Slow-Food-Gerichte gibt es hier nicht. Alles, was wir hier haben, ist Slow-Food.«
»Aber was bedeutet das denn? Ich dachte, das hat tatsächlich was mit langsam essen zu tun?«
»Nein, nicht wirklich. Slow-Food bedeutet vor allem, dassan die regionale Küche erhalten und mit Produkten aus der Gegend kochen soll, um die eigene Region zu stärken.«
»Ach so«, entgegne ich. »Das heißt, wenn ich diese Pizza bestelle, dann ist sie mit Tomaten aus der Umgebung von Turin belegt?«
»Genau. Dadurch schmeckt sie natürlich automatisch besser. Zumindest uns Lokalpatrioten.« Der Kellner grinst mich an. Irgendwie scheint er das ganze Slow-Food-Konzept nicht wirklich ernst zu nehmen.
»Also meinst du, das ist alles Quatsch?«
»Ach, na ja. Ich glaube schon an regionale Produkte, das macht ja Sinn. Aber die sollen das mal nicht alle so überbewerten. Manchmal hat auch Fast Food was Gutes. Ein schnelles Stück Pizza auf die Hand beim Juventus-Spiel ist jedenfalls nicht zu verachten. Und ein großer Fan von eurer Bratwurst bin ich auch.« Er lacht und nimmt ein Stück Pizza aus dem Holzofen. »Apropos, was hältst du von einem Stück klassischer Margherita mit frischen pomodori ?« Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Das Pizzastück duftet verlockend. Ich beiße hinein und bilde mir ein, dass es deutlich besser schmeckt als die Pizza, die ich bisher gegessen habe. Ob dass nun an den regionalen Zutaten oder am geschickten Marketing-Konzept von Slow Food liegt, ist mir letztendlich auch egal.
»Und du bist dann also auch so ein verrückter Fußball-Fan?«
»Natürlich! Wir Italiener lieben den Fußball. Ich glaube, es gibt keinen italienischen Mann, der nicht fußballverrückt ist. Fußball ist unser Leben!«
»Das mag ja sein. Aber ich verstehe das ganze Gewese nicht, dass ihr Italiener auf dem Spielfeld veranstaltet. Diese Aggression auf dem Platz, Entscheidungen werden nicht akzeptiert, und dann noch diese vorgetäuschten Fouls ...«
»Das kann eine Frau nicht verstehen. Da ist nichts vorgetäuscht. Das sind echte Emotionen und vielleicht ein bisschenahnsinn.« Er greift sich an die Brust. »Und sind wir mal ehrlich: Wenn wir Fußball spielen, ist es wenigstens nicht langweilig.«
»Stimmt. Langweilig ist es nicht. Im Gegenteil: Wurdet ihr mit Juventus Turin nicht mal aus der Seria A geschmissen? Das ist alles, was mein miserables Fußballwissen noch hergibt.«
»Fang bloß nicht davon an. Das war ein traumatisches Erlebnis.«
»Was ihr euch selbst zuzuschreiben habt, immerhin habt ihr betrogen«, entgegne ich trocken.
»Ach, weißt du, was heißt denn schon betrogen. Manchmal muss man die Regeln eben ein bisschen anpassen. Das gilt doch für alle Lebensbereiche. Ansonsten steht man sich nur selbst im Weg. Und ich finde, Juventus Turin spielt mit so viel Leidenschaft, da hätte man ruhig mal ein Auge zudrücken können. Immerhin machen wir die Menschen im ganzen Land glücklich mit unserem Fußball. Wir brauchen den Fußball!« Jetzt will ich wirklich ergründen, was hinter der Fußballbegeisterung der Italiener steckt.
»Warum braucht ihr Italiener Fußball?« Der Kellner blickt mich nachdenklich an.
»Ich glaube, wir sehen uns nicht gern als Individuum, sondern lieber als Teil einer Gruppe. Das hat bestimmt etwas damit zu tun, dass wir in großen Familienverbänden aufwachsen. So
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