Avanti Amore - mein Sommer unter Italienern
reicht mir die Hand. »Ich bin übrigens Natale.«
»Angenehm. Dana. Haben Sie Ihren Salon schon lange?«, frage ich neugierig. Langsam lege ich meine Scheu ab, mit fremden Menschen zu plaudern. Dass die Italiener nichts so sehr liebenie eine gepflegte Konversation, habe ich inzwischen verstanden. Auch der barbiere scheint offen für ein Gespräch.
»Schon eine halbe Ewigkeit. Ich bin seit fünfundfünfzig Jahren Friseur. Ich habe schon als Kind mit dieser Arbeit angefangen, um meine Familie in Kalabrien zu unterstützen. Das Geschäft hier betreibe ich seit zweiundvierzig Jahren. Heute stecke ich meinen Enkelkindern ein bisschen was zu, damit sie vernünftig studieren können.« Er lächelt mich an, und ich merke, wie sehr ihm seine Familie am Herzen liegt. Dann studiert er aufmerksam mein Gesicht. »Sie sollten sich einen Pony schneiden lassen. Das würde Ihnen hervorragend stehen.«
»Ein Pony? Niemals«, platze ich heraus. Ich stehe auf Kriegsfuß mit meinen Haaren und bin nicht bereit für Experimente. »Das würde ich mich nicht trauen.«
»Aber warum denn nicht? Schauen Sie doch mal.« Er zieht mich in seinen Laden vor den Spiegel und verwuschelt meine Haare. »Trauen Sie sich! Wissen Sie was? Ich bin mir wirklich sicher, dass es gut aussehen wird. So sehr, dass ich Ihnen den Schnitt schenke. Kann ich Sie damit überzeugen?« Ich bin immer noch skeptisch. Andererseits hatte ich auch Angst, alleine nach Italien zu fahren, und bislang komme ich sehr gut zurecht. Ich schaue mich im Spiegel an. Soll ich mich vielleicht doch einfach trauen? Ein paar Songzeilen von Anna Depenbusch kommen mir in den Sinn. Ellen hat mir das Lied vor meiner Abfahrt auf den iPod gespielt. Wo ist die Sonne hin, für so ein Sonnenkind, wie du es bist, ja wie wir es sind. Süße, ich muss dir jetzt was sagen, ich glaub, du solltest mal was wagen. Alles auf null, alles neu, alles andere ist vorbei, ab heute wird´s wundervoll, es wird gut, es wird groß, es wird gold.
»Okay«, sage ich also, bereue es aber schon in dem Moment, als der barbiere mit seiner Schere an mich herantritt. Er dreht mich vom Spiegel weg und mustert mich.
»Die meisten meiner Kunden sind Männer. Eigentlich habe ich klassisch damit angefangen, den Herren die Schnurrbärteu schneiden. Aber heute ist der Schnurrbart nicht mehr so im Trend. Die Männer kommen jetzt eher aus Gewohnheit und Nostalgie, so als würden sie einen alten Freund besuchen.« Ich werde nervös. Ich sitze auf einem 50er-Jahre-Friseurstuhl und lasse mir von einem Mann die Haare schneiden, der auf Schnurrbärte spezialisiert ist. Wahrscheinlich ende ich entweder mit einer gelegten 50er-Jahre-Welle oder mit einem toupierten Hinterkopf.
»Meinen Sie wirklich, dass das eine gute Idee ist?«, frage ich ihn noch mal zögerlich.
»Mädchen, seien Sie doch nicht so schüchtern«, antwortet er ungerührt und schnippelt an meinen Haaren.
»Was erzählen Ihre männlichen Kunden denn, wenn sie hier sind?«, frage ich, um mich abzulenken.
»Das ist ganz unterschiedlich. Die einen plaudern mit mir über das Tagesgeschäft, andere erzählen mir die Probleme, die sie mit ihren Ehefrauen haben. Die Mode mag sich ändern, die Schwierigkeiten zwischen den Geschlechtern bleiben immer gleich.« Er lacht. Dann dreht er mich schwungvoll zurück in Richtung Spiegel. »Schauen Sie mal!« Vorsichtig öffne ich die Augen. Ich habe einen Pony. Einen P-O-N-Y, der sich gewaschen hat. Er reicht gerade mal knapp bis über die Mitte der Stirn. Ich sehe ein bisschen aus wie Betty Page, das amerikanische Pin-up-Model aus den Fünfzigern. Ich bin erschüttert, doch bevor ich mich über die Frisur beschweren kann, dringen vom Nachbarhaus Rufe zu uns herüber.
» Terremoto! Erdbeben! Ein Erdbeben!« Natale springt auf und läuft heraus, ich folge ihm auf die Straße.
»Was?«, ruft er.
»Ein Erdbeben?« Ich bin verwundert. Das ist wohl ein Scherz. Aber die Leute, die gerade aufgeregt vor dem Nachbarhaus zusammenlaufen, wirken nicht so, als wären sie zu Späßen aufgelegt. Immer mehr junge Leute kommen auf den Bürgersteig zusammen.
Es gab ein Erdbeben! Habt ihr es denn nicht bemerkt? Die Erde hat gewackelt.«
»Un terremoto?« Auch Natale scheint verwundert. »Haben Sie ein Erdbeben bemerkt?«
»Nein, ich habe nichts gespürt«, entgegne ich, immer noch überrascht. Der barbiere stützt eine Hand in die Hüfte.
»Nun. Wahrscheinlich war ich so abgelenkt von dieser schönen Frau, dass ich noch nicht mal bemerkt habe,
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