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Ave Maria - Roman

Ave Maria - Roman

Titel: Ave Maria - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Sekunde an, als ich ihn zum ersten Mal sah, und jetzt wollte ich ihn mehr als je zuvor.
    Ich sah sein Gesicht, sein scheues Lächeln und das niedliche Zwinkern, das er in letzter Zeit gelernt hatte. Ich konnte seine Stimme in meinem Kopf hören. Ich wollte ihn in die Arme schließen und nie wieder loslassen.
    Alles war so unfair, so unsäglich falsch. Ich spürte in mir nur Wut und sogar Hass auf Christine, und deshalb fühlte ich mich noch elender. Ich würde gegen sie kämpfen, wenn sie das wollte, aber es war doch Wahnsinn, dass sie darauf bestand.

    Tief durchatmen, sagte ich mir.
    In schwierigen Situationen war ich angeblich so gut, die Ruhe zu bewahren. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich bestraft wurde, weil ich meine Arbeit tat, weil ich ein Polizist war.
    Keine Ahnung, wie lang ich oben gesessen hatte. Als ich schließlich die Mansarde verließ, war das Haus dunkel und still. Jannie und Damon schliefen in ihren Zimmern. Ich ging hinein und gab ihnen trotzdem Gutenachtküsse. Dann nahm ich Jannie die Mäuseohren ab und legte sie auf den Nachttisch.
    Danach ging ich auf die hintere Veranda. Ich klappte das Klavier auf und setzte mich hin, um zu spielen. Für mich Therapie.
    Für gewöhnlich packte mich die Musik und half mir, alles zu verarbeiten oder zu vergessen, was mir Sorgen bereitete.
    Heute Abend kamen die Bluesklänge wütend und ganz falsch. Ich wechselte zu Brahms, etwas Ruhigeres, aber es half nicht im Geringsten. Mein Pianissimo klang forte und meine Arpeggios waren wie schwere Stiefel, die eine Treppe hinauf- und hinabliefen.
    Schließlich hielt ich mitten in einem Satz inne und ließ die Finger auf den Tasten liegen.
    In der Stille hörte ich, wie ich scharf einatmete, unwillkürlich nach Luft rang.
    Was, wenn ich Klein Alex verliere?

32
    Nichts konnte schlimmer sein als das. Jedenfalls konnte ich mir nichts Schlimmeres vorstellen.
    Wenige Tage später flogen wir alle nach Seattle zur Sorgerechtsverhandlung für Klein Alex. Wieder flog die ganze Familie Cross nach Westen. Diesmal war es aber kein Urlaub, nicht mal ein kurzer.
    Am Morgen nach unserer Ankunft saßen Jannie, Damon und Nana still hinter mir im Gerichtssaal, während wir darauf warteten, dass die Verhandlung begann. Wir redeten nicht mehr, sondern saßen nur in angespanntem Schweigen da. Doch es bedeutete mir mehr, als ich geglaubt hätte, dass sie alle bei mir waren.
    Ich rückte die Papiere vor mir gerade. Zum zehnten Mal. Ich war sicher, dass ich für die anderen ganz normal aussah, aber innerlich war ich ein Wrack, völlig ausgehöhlt.
    Ben Abajian und ich saßen links im Saal, am Tisch des Beklagten. Der Raum war warm, wenngleich unpersönlich ausgestattet. Honigfarbene Täfelung an den Wänden und die übliche Einrichtung.
    Es gab keine Fenster, doch das spielte keine Rolle. Seattle zeigte sich an diesem Morgen von seiner dunklen, regnerischen Seite.
    Als Christine hereinkam, sah sie frisch und gesammelt aus. Ich bin nicht sicher, was ich erwartet hatte, vielleicht irgendein äußeres Anzeichen, dass es für sie ebenso schwierig war wie für mich. Ihr Haar schien länger zu sein. Sie trug es in einem Zopf. Ihr marineblaues Kostüm und die hochgeschlossene Seidenbluse waren konservativer, als ich es von
ihr gewohnt war - und furchteinflößender. Sie sah aus, als sei sie die zweite Anwältin im Raum. Alles war perfekt.
    Unsere Augen trafen sich kurz. Sie nickte in meine Richtung, ohne irgendein Gefühl zu zeigen. Eine Sekunde lang erinnerte ich mich, wie ich sie an dem Tisch bei Kinkead’s, unserem Lieblingsrestaurant in Washington, angesehen hatte. Es war schwer zu glauben, dass die Augen in diesem Gerichtssaal dieselben waren oder dass sie dieselbe Person war.
    Sie sagte kurz zu Jannie, Damon und Nana Hallo. Die Kinder waren reserviert und höflich, was ich zu schätzen wusste.
    Nana war die Einzige, die irgendwie feindselig war. Sie starrte Christine bis zum Sitz der Klägerin an.
    »Was für eine Enttäuschung«, murmelte sie. »Oh, Christine, Christine, wer bist du? Das bist doch nicht du. Du würdest doch einem Kind kein Leid zufügen.«
    Dann drehte Christine sich um und schaute Nana an. Sie schien Angst zu haben, etwas, das ich bei ihr nie zuvor gesehen hatte.
    Wovor hatte sie Angst?

33
    Ms Billingsley saß links von Christine und Ben rechts von mir, wodurch wir uns nicht sehen konnten. Das war wohl gut so. Im Moment wollte ich sie nicht sehen. Ich konnte mich nicht erinnern, je zuvor so wütend gewesen zu

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