Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
immer wartete. Sie folgte ihm mit dem Blick. Er zog seinen Stuhl wieder auf seinen ursprünglichen Platz und setzte sich ihr gegenüber. Diese Spielchen waren jetzt überflüssig.
»Das war’s, es ist vorbei«, sagte er, aber sie verstand nicht, was er meinte. Ihre linke Hand lag ausgebreitet auf dem Tisch. Bevor er in den Vernehmungsraum zurückgekehrt war, hatte Ilana ihn gefragt, ob sie ihn ablösen oder ihn bei der weiteren Vernehmung unterstützen solle. Er hatte verneint. Jetzt, angesichts der wie erstarrt dasitzenden Mutter, dachte er, dass das ein Fehler gewesen war. Er konnte Hannah Sharabi nicht anschauen und wusste nicht, ob sein Hass ihn davon abhielt oder sein Mitleid.
»Ich weiß, was Ofer zugestoßen ist, Sie können mit dem Versteckspiel aufhören. Und ich verstehe nicht, warum Sie gelogen haben. Sie haben einen schweren Fehler gemacht.«
»Haben Sie Ofer gefunden?«, fragte sie.
Ohne die Stimme zu heben, antwortete Avraham Avraham: »Hören Sie auf damit, Hannah. Ihr Mann hat ein umfassendes Geständnis abgelegt, das wir jetzt durchgehen werden. Ich bitte Sie, zu allen Punkten seiner Version Stellung zu nehmen. Und in Ihrem Interesse und dem Ihrer Kinder bitte ich Sie, dass Sie mir diesmal die Wahrheit sagen.«
Ein Blatt mit einer Zusammenfassung des Geständnisses, in Absätze unterteilt, lag vor ihm. »Am Dienstagabend, dem 3. Mai, sind Ihr Mann und Sie noch ausgegangen, um sich mit Freunden zu treffen. Können Sie mir sagen, um wie viel Uhr?«
»Das hatten wir doch schon. Ungefähr um neun.« Ihre Stimme zitterte.
Die Schilderung jenes Tages hatte Avraham Avraham noch gut in Erinnerung. Ofer war um zwei aus der Schule gekommen, hatte allein zu Mittag gegessen und dann am Computer gespielt, ferngesehen und seine Hausaufgaben gemacht. Rafael Sharabi schlief ein paar Stunden und packte anschließend seinen Koffer für die Reise. Nachdem der jüngste Sohn und die Tochter aus dem Kindergarten und der Schule kamen, aßen sie alle gemeinsam zu Abend. Danach badete der Vater den jüngsten Sohn und brachte ihn ins Bett. Seine Frau half Danit, sich zu waschen und ein Nachthemd anzuziehen. Ofer ging, nachdem sein kleiner Bruder eingeschlafen war, in sein Zimmer und setzte sich wieder an den Computer.
»Können Sie mir die Namen Ihrer Freunde nennen, mit denen Sie sich abends noch getroffen haben?«, fragte er.
Sie zögerte noch immer. Wusste sie nicht, was genau ihr Mann gesagt hatte? Oder wollte sie vielleicht glauben, der dramatische Abgang Avrahams und seine Rückkehr nach geschlagenen zwei Stunden, in denen er angeblich ein umfassendes Geständnis gehört hatte, waren bloß ein Vernehmungstrick?
»Hannah, denken Sie bitte daran: Wir wissen alles, und wenn es etwas gibt, das wir noch nicht wissen, werden wir ohne weiteres dahinterkommen. Nennen Sie mir die Namen Ihrer Freunde und das Café, in dem Sie sich getroffen haben.«
»Es war in der Stadt«, stieß sie hervor. »Ich weiß nicht mehr, wie es hieß.«
»In Ordnung. Ihr Mann gibt in seinem Geständnis an, dass er um halb elf allein nach Hause gegangen ist, weil er sich unwohl fühlte. Sie sind mit den Freunden noch geblieben. Diese Version halten wir für nicht glaubwürdig.«
Das Ermittlerteam war einer Meinung gewesen – die Eltern hatten ihre Aussagen aufeinander abgestimmt. Jetzt aber meinte Avraham, Erstaunen in Hannah Sharabis Augen zu erkennen. Was genau mochte sie an seinen Worten überrascht haben? War es möglich, dass sie sich doch nicht abgesprochen hatten und Rafael Sharabi aus eigenem Entschluss Schärfstein eine Version geliefert hatte, die seine Frau von jeglicher Verantwortung freisprach? Es sollte ihm niemals gelingen, diese Frage wirklich zu klären.
»Richtig. So war es«, flüsterte sie.
»Bei den bisherigen Vernehmungen haben Sie aber etwas anderes gesagt. Sie beide haben einvernehmlich behauptet, Sie seien zusammen nach Hause gegangen. Wir werden ohne Schwierigkeiten feststellen, was zutrifft, das ist Ihnen doch bewusst, oder? Wir werden Ihre Freunde zur Vernehmung vorladen und das klären.«
»Rafael hat sich nicht gut gefühlt, und er musste früh schlafen gehen, wegen der Arbeit. Ich wollte noch ein bisschen bleiben.«
Ohne dass es einer von ihnen aussprach, gestanden sie sich beide zum ersten Mal während dieses Verhörs ein, dass Ofer gar nicht vermisst wurde. Dass er niemals vermisst worden war. Und auch nicht von zu Hause weggelaufen war. Ofer war weder in Rio de Janeiro noch in Koper oder in Tel Aviv.
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