Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Die Geschichte, die sie ihm in den zurückliegenden drei Wochen erzählt hatte, und die Vorstellungen, die er sich gemacht hatte, lösten sich in Luft auf. Aber die Geschichte, die sie ihm jetzt würde erzählen müssen, wollte er nicht hören.
»Kann ich meinen Mann sehen?«, fragte sie.
»Noch nicht. Möglich, dass Sie sich später sehen werden.«
In dieser Phase des Verhörs war es ihm unbegreiflich, dass Hannah Sharabi nicht zusammenbrach. Im Gegenteil. Sie wechselte zu der anderen Geschichte und hielt sich an beinahe jedes Detail der Version, die ihr Mann in seinem Geständnis geliefert hatte, vertraute Avraham jedoch auch weiterhin nichts an, was er nicht schon gewusst hätte. Es blieb nur die Möglichkeit, ihr entweder die Wahrheit zu entreißen, wie Schärfstein gefordert hatte, oder sie auf ihrer Geschichte beharren zu lassen. Zumindest vorerst, wie Ilana vorgeschlagen hatte.
»Nun gut, dann sagen Sie mir: Wie viel später als Ihr Mann sind Sie nach Hause gekommen?«
»Ich weiß nicht genau. Vielleicht eine Stunde.«
»Und erinnern Sie sich noch, wie Sie nach Hause gekommen sind?«
»Wie?«
»Wie Sie nach Hause gekommen sind: zu Fuß? Mit dem Taxi? Haben Ihre Freunde Sie gefahren?«
»Zu Fuß«, antwortete sie.
»Wenn ich es richtig verstanden habe, war Ofer, als Sie nach Hause gekommen sind, bereits tot.«
Beide waren sie bestürzt darüber, wie abrupt und brutal diese Worte von ihm ausgesprochen wurden. Er sogar noch mehr als sie. Vor über zwei Stunden hatte er von der Tat erfahren, aber erst in diesem Moment wurde es ihm mit ganzer Wucht bewusst.
Ofer war bereits tot gewesen.
Unternahm er einen Versuch, seine Worte ungeschehen zu machen, indem er seine Frage sogleich anders formuliert wiederholte, was ihr die Endgültigkeit nahm und die Möglichkeit zuließ, dass Ofer noch am Leben war? Er sagte: »Wo war Ofer, als Sie nach Hause kamen?«
»In seinem Zimmer.«
Er sah, dass ihr Gesicht erneut diesen harten Ausdruck annahm. Diese Antwort entsprach nicht dem, was Rafael Sharabi in seinem Geständnis ausgesagt hatte. Avraham Avraham spürte, wie erneut die Wut in ihm erwachte, und bemühte sich, sie zu unterdrücken. Er wollte, dass sie ihm die Wahrheit sagte, und wollte es auch wieder nicht. Ilana hatte ihn angewiesen, nicht zu viel Druck auszuüben. Nicht in dieser Phase.
»Es genügt, wenn wir mit ihrer Hilfe die Einzelheiten aus seiner Version abklopfen«, hatte sie erklärt.
»Ihr Mann hat etwas anderes erzählt«, sagte er.
Hannah Sharabi erwiderte: »Aber so war es.«
»Dann geben Sie sich Mühe, alles möglichst genau zu rekonstruieren. Erinnern Sie sich, wie Sie die Haustür geöffnet haben? Haben Sie selbst aufgeschlossen, oder haben Sie geklingelt und Ihr Mann hat Ihnen aufgemacht?«
»Ich habe selbst aufgesperrt«, erwiderte sie.
Er erinnerte sich, wie er am Freitag vor der Haustür gestanden und gewartet hatte, zwei Tage, nachdem Hannah Sharabi Ofers Verschwinden gemeldet hatte. Er hatte geklingelt, doch über die Gegensprechanlage hatte sich niemand gemeldet. Eine Nachbarin hatte ihn schließlich ins Haus gelassen, und er hatte Hannah Sharabi frisch geduscht angetroffen. Sie hatten einen Kaffee an dem Tresen getrunken, der die Küche von der Essecke und dem Wohnzimmer trennte. Sie hatte ihn gefragt, ob die Ermittlungen schon etwas Neues ergeben hätten. Und die ganze Zeit über hatte sie gewusst, was mit Ofer passiert war.
»Wie haben Sie Ihre Wohnungstür geöffnet, auch selbst?«
»Ja«, antwortete sie.
Auch vor ihm, in seiner Erinnerung, öffnete sich jetzt die Tür zu der Wohnung. Zur Linken lag das Wohnzimmer. Rechts die Essecke und die Küche. Und gleich hinter der Wohnungstür war ein schmaler Durchgang zu dem Korridor, der zu den Schlafzimmern führte. Am Ende des Flurs lag Ofers Zimmer.
»Sie sind in die Wohnung gekommen, und was haben Sie gesehen?«
»Nichts.«
»War das Licht angeschaltet? War es dunkel? Was haben Sie gesehen?«
»Es war Licht an. Und es war keiner da. Still war es.«
Der Fernseher lief nicht, und keiner saß im Wohnzimmer auf dem Sofa. Auch die Küchenschränke, der Esstisch und die Wände schwiegen. Alles war von schwachem Licht beschienen. Aber so war es nicht gewesen.
»Und wo war Ihr Mann?«
»Im Badezimmer.«
Durch die kleine Glasscheibe in der Badezimmertür hatte sie Licht gesehen. Geräusche waren von dort zu hören gewesen, vielleicht Wasserrauschen. Auch so war es nicht gewesen.
»Und was haben Sie dann in der Wohnung
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