Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
aller Kraft auf die geschlossene Zimmertür gerichtet. Alle Muskeln in ihrem Gesicht waren angespannt in dem Bemühen, die Fassung zu wahren. Hätte sie ihr Gesicht in den Händen vergraben können, hätte sie es wohl getan.
Beide schwiegen sie. Er hatte nichts mehr hinzuzufügen. Avraham war am Ende seines Verhörplans angelangt.
Plötzlich sagte sie: »Gehen Sie weg von mir.«
»Was?«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, stieß sie hervor. »Kommen Sie mir nicht so nahe.«
Er rückte von ihr ab und stand auf.
Wartete.
Begann erneut, im Zimmer auf und ab zu wandern, diesmal nicht, um ihren Blick einzufangen, sondern um sich zu beruhigen.
Hin und wieder schaute er zu ihr hinüber, um zu sehen, ob sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Ihre Kiefer mahlten. Die Macht, mit der ihre Augen die Türklinke fixierten, ängstigte ihn.
Er konnte sie nicht ewig hier im Verhörraum behalten.
Und mit einem Mal war er voller Hass. Wollte über sie herfallen, sie schlagen, sie an den Haaren packen und gegen die Wand schleudern. Sie mit dem Kopf dagegen schlagen, einmal und noch einmal.
Doch das Verhör wurde aufgezeichnet.
Die Tür ging auf, und Schärfstein stand da. »Kommst du mal eben, Avi«, sagte er.
»Nicht jetzt. Ich bin mittendrin«, antwortete Avraham Avraham.
»Avi, komm mit!«, bellte Schärfstein.
Er fügte sich, wegen des Bellens.
Schärfstein schien wie unter Schock. In seinen Augen war keine Freude, als er sagte: »Das war’s. Er hat gestanden.«
15
Als Ilana, die sofort informiert worden war, aus Tel Aviv eintraf, zogen sie sich in den Besprechungsraum zurück, um das Geständnis des Vaters in seine Bestandteile zu zerlegen und im Hinblick auf die weiteren Ermittlungen zu analysieren. In einigen Punkten hegten sie Zweifel an seiner Version, da er alle Schuld auf sich genommen und seine Frau jeglicher Verantwortung enthoben hatte. Schärfstein war der Meinung, auch die Mutter sollte noch einmal hart rangenommen werden. Beiden müsste die Wahrheit entrissen werden. Ilana hingegen war unschlüssig. Sie tendierte dazu, sich fürs Erste mit dem Geständnis des Vaters zu begnügen. Es reichte aus, um beide Eltern einem Richter vorzuführen und Untersuchungshaft zu beantragen.
Avraham Avraham beteiligte sich nicht an dem Gespräch. In seinen Ohren hallten noch immer Schärfsteins Worte nach.
»Avi, komm mit!«
Er sah vor sich, wie sich der Blick der Mutter schreckensstarr auf ihn richtete, als er Schärfstein folgte und den Vernehmungsraum verließ.
Sie hatte begriffen.
Rafael Sharabi war eingeknickt, nachdem Schärfstein im Verhör angedeutet hatte, die Polizei verfüge neben den Informationen über die Briefe und den anonymen Anruf noch über weiteres belastendes Material. Und vielleicht sogar über eine Leiche. Seine Vernehmungstechnik unterschied sich vollkommen von der Avraham Avrahams. Er drohte, zündete Nebelkerzen, bezog sich immer wieder auf das Verhör, das im Nebenraum geführt wurde, steuerte das Gespräch hart am Rand der gesetzlichen Möglichkeiten entlang. Und er geriet nicht ein Mal außer sich.
Wäre es Avraham Avraham ebenso gelungen, den Vater weichzukochen?
Wie seine Frau hatte auch Rafael Sharabi ihn bei seiner Vernehmung angelogen. Und er hatte ihm geglaubt. Hatte den Eltern auch noch vertraut, nachdem in der Teamsitzung der Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen angezweifelt worden war. Und er hatte sogar dann noch an sie geglaubt, als er die Mutter vernommen hatte, auch als er ihr gegenüber ausfallend geworden war und den Drang verspürt hatte, ihr Schweigen an der Zimmerwand zu zertrümmern.
Er brauchte jetzt eine Zigarette, konnte aber unmöglich den Raum verlassen. Schärfstein und Ilana saßen angespannt vor dem kleinen Monitor. Ilanas Gesichtsausdruck war finster. Sie wies ihn an, Maalul, der ebenfalls auf dem Weg zum Revier war, anzurufen und ihn zu bitten, das Jugendamt und die Sozialbehörde zu informieren.
Auch Schärfstein hatte eine Trumpfkarte im Ärmel gehabt, die er nicht offengelegt hatte – die Fingerabdrücke des Vaters auf dem Rucksack. Ein eigentlich bedeutungsloses Ermittlungsdetail, das ja zu erwarten gewesen war. Jeder Junganwalt hätte, wäre er bei der Vernehmung zugegen gewesen, Schärfsteins nebulöse Andeutungen wie Zigarettenstummel zerdrückt. Aber das war gerade der Clou an dem Plan, den er sich ausgedacht hatte: Die Eltern waren nicht festgenommen worden. Sie waren aus freien Stücken auf dem Revier, allein, ohne Rechtsbeistand.
Schärfstein legte
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