Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
rückversichert, dass es der aktuelle Stundenplan ist. Danach hätte Ofer von acht bis zehn Uhr Algebra gehabt, danach eine Stunde Englisch, dann Sport, Soziologie und Literatur.«
Er schaute sie an und wartete auf eine Antwort. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, worauf er hinauswollte.
Er zog ein weiteres Blatt aus dem Ermittlungsordner.
»Keine Angst«, sagte er. »Ich versuche nicht, Ihnen etwas anzuhängen. Ich möchte Ihnen helfen.«
Sie schwieg.
»Das ist die Liste der Bücher, die in Ofers Rucksack waren, als wir ihn gefunden haben. Ein Arbeitsbuch Staatsbürgerkunde, ein Soziologiebuch, eine Ausgabe von ›Antigone‹, sicher für den Literaturunterricht, und ein Sprachbuch für Hebräisch. Kein Algebrabuch und kein Englischbuch, obwohl die ersten drei Stunden am Mittwoch Algebra und Englisch gewesen wären. Das klingt für mich gar nicht nach Ofer, nicht wahr? Was schließen Sie daraus?«
Sie nahm ihm das Blatt mit der Liste der Gegenstände, die sich im Rucksack befunden hatten, nicht aus der Hand. Ihre Hände ruhten auf ihren Knien, wie beinahe die ganze Vernehmung über.
»Ich schließe daraus, dass Ofer, sollte er seine Tasche selbst gepackt haben, nicht vorhatte, am Mittwoch zur Schule zu gehen. Klingt das nachvollziehbar für Sie?«
Sie legte die linke Hand auf den Tisch, wie sie es zuvor schon einmal getan hatte, als er sie mit der Frage nach dem Telefonanruf überrascht hatte. Er war ihr jetzt so nah, dass sein Gesicht beinahe ihre linke Wange, ihr Ohr und die schwarzen Härchen darauf berührte. Daher wusste sie nicht, wohin sie schauen sollte, als sie mit rauher Stimme sagte: »Also kann es sein, dass er wusste, dass er nicht …«
Er unterbrach sie. »Das ist genau das, was ich denke«, sagte er. »Aber etwas verwirrt mich. Sie haben mir gesagt, Ofer sei ein sehr ordentlicher Junge. Und ich habe das ja selbst gesehen, als ich in seinem Zimmer war, erinnern Sie sich?«
Sie nickte.
»Und das ist es, was mich verwirrt. Angenommen, er hatte nicht vor, am Mittwoch zur Schule zu gehen. In diesem Fall hätte er sicher die Bücher in seinem Rucksack gelassen, die er am Dienstag aus der Schule wieder mitgebracht hatte. Oder?« Er wartete, dass sie etwas sagen würde, aber sie erwiderte nichts, also fuhr er fort und vertiefte sich dabei erneut in den Stundenplan. »Von acht bis neun Uhr Altes Testament, von neun bis zehn Geometrie, danach zwei Stunden Englisch, eine Stunde Geografie und eine Geschichte. Verstehen Sie? Dasselbe Problem. Ihr Mann hat mich vorgestern am Telefon gefragt, ob wir etwas an dem Rucksack gefunden haben. Haben wir. Dieses Problem nämlich. Wenn sich irgendein Schluss aus Ofers Tasche ziehen lässt, dann der, dass er nicht vorhatte, zur Schule zu gehen. Sonst hätte er die richtigen Bücher mitgenommen. Andererseits, wenn er geplant hat, von zu Hause wegzulaufen, warum hat er dann seine Schulbücher mitgenommen? Und wenn wir davon ausgehen, dass er am Dienstag die richtigen Bücher in der Schule dabeihatte, ergibt sich das nächste absurde Drehbuch: Wenn Ofer am Dienstagnachmittag seine Tasche gepackt hat, um wegzulaufen oder zu verschwinden, müsste er die Bücher aus seinem Rucksack geholt haben, die er am Dienstagmorgen in der Schule dabeigehabt hatte, um stattdessen andere Bücher hineinzutun. Und zwar irgendwelche. Erscheint Ihnen das logisch? Oder zu Ofer passend?«
Er brachte sein Gesicht auf Abstand zu ihrem, und seine Stimme versagte beinahe, als er ihr zum ersten Mal den Satz sagte, der noch nicht vorformuliert in seinem Kopf gewesen war, als ihr Gespräch begonnen hatte. Er meinte, Tränen in ihren Augen zu sehen.
»Und es gibt noch eine Möglichkeit: dass Ofer am Dienstag nach Hause gekommen ist, die Schulbücher herausgenommen hat, vielleicht Hausaufgaben gemacht oder sie ordentlich ins Regal gestellt hat. Und dass irgendein anderer die Bücher, die wir gefunden haben, in den Rucksack gesteckt hat, wann genau, weiß ich nicht. Aber dass es nicht Ofer war, sondern jemand, der Ofers Stundenplan nicht kannte oder überhaupt nicht daran gedacht hat. Derjenige hat irgendwelche Bücher in den Rucksack gesteckt, bevor er ihn in den Container geworfen hat.«
Abermals brachte er sein Gesicht ganz nah an ihre Wange heran und wartete.
»Hannah, in dem Rucksack war ein Sprachbuch für Hebräisch, aber Ofer hat gar kein Hebräisch mehr. Sie wissen selbst, dass er bereits im letzten Jahr seine Abschlussprüfung in Hebräisch gemacht hat.«
Ihr Blick war erneut mit
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