Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
du weißt, wenn sich der Fall verkompliziert oder wir den Eindruck gewinnen, dass er sich von einer Vermisstensache beispielsweise zu einer Morduntersuchung entwickelt, sind wir eventuell gezwungen, eine Sonderermittlungseinheit aufzustellen und ihr den Fall zu übertragen. Darauf hab ich keinen Einfluss. Vor allem, wenn es Druck vonseiten der Familie geben sollte. Vielleicht wird der Fall der Zentralen Ermittlung unterstellt. Das soll dich vorerst aber nicht in deiner Ermittlungsarbeit beeinflussen. Im Moment ist es eine Vermisstensache, und sie gehört dir. Erst wenn sich der Fall in eine andere Richtung entwickelt, müssen wir überlegen, wie wir damit umgehen.«
Das sagte sie ausgerechnet jetzt, da er das Gefühl gehabt hatte, mit der frischen Luft gewänne er langsam den klaren Verstand zurück, von dem sie gesprochen hatte. Er sah sie flehend an und sagte: »Ilana, bitte, nimm mir diesen Fall nicht weg. Vor einer halben Stunde wollte ich dich noch bitten, ihn jemand anderem zu übertragen, aber du weißt, dass mich das fertigmachen würde. Das ist meine Ermittlung, mein Fall, von genau dem Moment an, als die Mutter zu uns aufs Revier gekommen ist, und es muss mein Fall bleiben, bis ich Ofer gefunden und ihn nach Hause zurückgebracht habe.«
Er hatte eine Woche. Ilanas Bemerkung war unmissverständlich gewesen. Sollte es bis zu seiner Reise keinen Durchbruch bei den Ermittlungen geben, würde er nach Brüssel fliegen und bei seiner Rückkehr den Fall in fremden Händen vorfinden. Und selbst wenn sie keine Sonderermittlungseinheit aufstellten und der Fall auch nicht an die Zentrale Ermittlung ging, er wusste nicht, was Schärfstein in dieser Woche anstellen konnte, vielleicht würde er Avrahams Abwesenheit nutzen, um ihn aus den Ermittlungen zu drängen. Der Gedanke, der Fall könnte ausgerechnet während seiner Brüssel-Reise abgeschlossen werden, erschreckte ihn.
Er nahm den Jaffa-Weg zurück zum Revier und hielt bei Abulafiyas Bäckerei, um sich eine mit Käse gefüllte pikante Sambusak-Teigtasche zu kaufen. Der El-Al-Flug 382 aus Mailand würde um 22.50 Uhr landen. Er konnte den Vater also in der Ankunftshalle des Flughafens abfangen und ihn zur Befragung gleich aufs Revier fahren, oder er konnte ihn die Nacht bei seiner Familie verbringen lassen und ihn erst für den nächsten Morgen aufs Revier bestellen. Vielleicht würde er aber auch einfach zu den Sharabis fahren und an ihre Wohnungstür klopfen. Er wollte sich noch einmal in der Wohnung umsehen, an dem Ort, an dem sich Ofer zuletzt aufgehalten hatte, bevor er verschwunden war. Und er wollte sie beide dort sehen, die Mutter und den Vater. Er war Hannah Sharabi seit Freitag nicht mehr begegnet. Vielleicht würde sie in Gegenwart ihres Mannes weniger verschreckt sein und ihm noch etwas über ihren Sohn erzählen können. Er wollte in das Gesicht des Vaters schauen und sich vorstellen, wie Ofer aussähe, wenn er so alt wäre. Wollte zusammen mit ihm Ofers Zimmer betreten, neben ihm auf dem Jugendbett sitzen und gemeinsam mit ihm die Schubladen öffnen, die er bereits am Freitag inspiziert hatte. Würde ihm das Gesicht des Vaters mehr Einzelheiten über Ofer und dessen Leben verraten, als er im Gesicht der Mutter hatte entdecken können? Außerdem könnte er, wenn er den Vater in seiner Wohnung befragte, hinterher noch einen Abstecher zu dem Nachbarn machen. Er musste ihn nur vorher kontaktieren, um sicherzustellen, dass er auch zu Hause war.
Sein Mobiltelefon klingelte genau in dem Augenblick, als er auf den Parkplatz des Reviers einbog. Die Nummer war unterdrückt.
»Ist der berühmte Inspektor Avraham Avraham für eine Sekunde zu sprechen?«
Er erkannte die Stimme sofort, obwohl er sie seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr gehört hatte, und bereute es, das Gespräch angenommen zu haben.
»Ja, am Apparat.«
»Schalom, Avraham Avraham. Hier ist Uri Uri vom Schabak Schabak.«
Sein Lachen war verwirrend, glucksend, das Lachen eines Kindes. »Ich rufe dich an wegen der Sache mit dem Vermissten Vermissten.«
Avraham manövrierte den Wagen auf seinen angestammten Parkplatz, stellte den Motor ab und blieb im Fahrzeug sitzen.
»Bist du noch dran? Sei nicht gleich beleidigt. Du weißt doch, dass ich nur mit dir scherze, weil wir Seelenverwandte sind. Die Herren von der Polizei sind schrecklich empfindlich geworden, seit man ihnen in Führungspositionen Damen vor die Nase gesetzt hat, findest du nicht auch?«
Er verabscheute diesen Uri, obwohl
Weitere Kostenlose Bücher