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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Mishani
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kannten sich erst seit vier Wochen, aber Seev spürte, dass so etwas wie eine unausgesprochene Sympathie zwischen ihnen herrschte, fast immer ein Indiz für eine sich anbahnende, enge Freundschaft.

    Die Geschichte der älteren Frau begann in irgendeinem Krankenhaus, am Sterbebett ihrer greisen, schwer krebskranken Mutter. Den Worten der Erzählerin, der Tochter, war zu entnehmen, dass Entfremdung und Verbitterung die Beziehung der beiden bestimmten. Die Tochter reagierte erbost, als die Mutter das Bett einnässte, unmittelbar nachdem sie ihr das Laken gewechselt hatte. Augenblicke vor dem Tod der Mutter erinnerte sich die Tochter dann an eine traumatische Szene aus ihrer eigenen Kindheit. Die Mutter, eine Immigrantin aus Polen, begleitet sie vor der jährlichen Klassenreise zu dem alten blauen Bus, der vor der Schule wartet. Im Bus sitzen bereits zahlreiche lärmende Kinder, von denen einige in makellosem Hebräisch Arbeiter- und Heimatlieder singen, wohl um die damalige Zeit zu charakterisieren und als Sinnbild für die Distanz, die zwischen der Mutter und ihrer Tochter, die aus Polen eingewandert sind, und den in Israel geborenen Klassenkameraden des Mädchens herrscht. Die Mutter besteigt den Bus, obgleich die Tochter gebeten hat, sich in einiger Entfernung von ihr zu verabschieden. Doch die Mutter besteht darauf, ihrer Tochter zu helfen, den Rucksack auf die Ablage über dem Sitz zu wuchten. Außerdem trägt sie einen großen Topf Borschtsch bei sich, dessen Deckel mit einem Strick gesichert ist. Die Mutter hebt auch den Topf in das Gepäcknetz, aber der Topf kippt und der Strick gibt nach. Sämig, rot und säuerlich riechend ergießt sich die Suppe über den Sitz und die abgetragenen Kleider der Mutter, woraufhin sie von ihrer Tochter mit sich überschlagender Stimme in unbeholfenem Hebräisch aus dem Bus gejagt wird. »Verschwinde, geh«, ruft die Tochter ihr nach. Die Mutter bahnt sich ihren Weg nach draußen, drängt sich beschämt zwischen den feixenden einheimischen Kindern hindurch und murmelt auf Polnisch: »Wybacz mi, Kochanie« – verzeih mir, Liebste.
    Die Diskussion in der Klasse hatte sich bald erschöpft und wurde langweilig.
    Seev wusste, was Michael dachte, und wartete ab.
    Endlich hob der Seminarleiter den Kopf und sagte leise: »Mich hat diese Geschichte sehr berührt.«
    Seev, der ein wenig überrascht war von dieser Formulierung, versuchte Michaels Blick zu entnehmen, ob er tatsächlich gerührt war. Doch dessen glühende Augen fixierten die ältere Frau, die noch immer versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
    Die Klasse verstummte, und Michael fuhr fort: »Ich denke, deine Begabung, eine ganze Szene in wenigen Sätzen zu entwerfen, ist phantastisch. Und ich möchte diese Leistung wirklich herausstellen. Auf zweieinhalb Seiten hast du vier emotional glaubwürdige Charaktere erschaffen, denn Mutter und Tochter in der Gegenwart und Mutter und Tochter in der Vergangenheit sind nicht dieselben. Davon abgesehen hast du, ohne Zeitangaben zu verwenden, zwei sehr weit auseinanderliegende Erzählebenen einzig und allein mithilfe von Zeitmarkern wie dem modernen Krankenhauszimmer oder dem alten Autobus entstehen lassen. Es gibt bekannte und namhafte Autoren, die dazu nicht imstande sind.«
    Dieser spöttische Zusatz, der allein für Seevs Ohren bestimmt zu sein schien, minderte seine Verwirrung angesichts der Lobeshymnen, mit denen Michael die Frau überhäufte. Von allen, die hier im Zimmer saßen, spürte wohl er allein die Schärfe und den Sarkasmus von Michael, der in den Literaturbeilagen der Tageszeitungen regelmäßig schneidende Rezensionen zu Büchern von Autoren veröffentlichte, die deutlich älter und angesehener waren als er selbst, beispielsweise schrieb er über A.B. Yehoshua oder Yoram Kaniuk. Seev hatte ihm vor einer Woche bei ihrer Unterhaltung auf der Heimfahrt erzählt, dass er diese Besprechungen immer lese, und Michael hatte gesagt, er überlege, damit aufzuhören. »Das hat mir bisher außer Ärger und einem Haufen gekränkter Zeitgenossen nichts gebracht«, hatte er zynisch erklärt.
    Michaels Stimme blieb weiterhin verhalten, auch als sich sein Tonfall änderte: »Ich möchte dir aber sagen, dass deine Erzählung, zumindest in meinen Augen, noch besser und noch stärker sein könnte. Sie ist wirklich wunderbar, das ist mir ganz wichtig zu betonen. Aber sie hätte noch mehr gewonnen, wenn du beherzigt hättest, worüber ich seit unserer ersten Stunde spreche, wenn du nämlich

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