Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
getan hat, was man hätte tun müssen. Vorher kann man es nicht wissen. Du kannst die halbe Welt auf den Kopf stellen, und am Ende findet sich der Vermisste in dem einen Viertel, das du nicht umgegraben hast. Das gilt auch für die gestrige Suchaktion. Bis wir Ofer nicht irgendwo anders gefunden haben, wissen wir nicht, ob wir dort in den Dünen gründlich genug gesucht haben.«
»Das ist es nicht, was mich so beschäftigt. Das Schwierige an diesen Fällen ist, dass man nie weiß, ob man ein Verbrechen untersucht oder nicht. Wir können mit Kapitalverbrechen umgehen und wissen, wie wir Straftäter im Verhör überführen, aber bei Vermisstenfällen hat man in der Regel keine Ahnung, ob überhaupt ein Verbrechen vorliegt oder nicht. Du läufst herum und verdächtigst Leute, Nachbarn, Freunde, Familienangehörige, den Vermissten selbst, Menschen, die sich um den Vermissten genauso viele Sorgen machen wie man selbst – Unsinn, natürlich machen sie sich viel größere Sorgen –, und du musst sie verdächtigen, hast keine andere Wahl, bist gezwungen, davon auszugehen, dass alle irgendetwas vor dir verbergen. In den meisten Fällen stellt sich am Ende heraus, dass kein Verbrechen begangen wurde und niemand etwas verheimlicht hat. Es kann genauso gut sein, dass Ofer Sharabi jetzt am Strand von Rio de Janeiro liegt und niemand etwas davon weiß und niemand schuld an irgendetwas ist.«
»Stimmt nicht. Du weißt genau, dass er nicht in Rio de Janeiro ist. Und wieso kommst du ausgerechnet auf Rio de Janeiro?«
»Wie kann ich wissen, dass er nicht dort ist? Ich weiß überhaupt nichts.«
»Kannst du sehr wohl. Du fragst bei den Grenzkontrollen nach, ob er ausgereist ist oder nicht. Und wenn er das Land verlassen hat, überprüfst du die Passagierlisten der Fluggesellschaften, die nach Brasilien fliegen, ob er seit Mittwoch an Bord einer Maschine nach Rio de Janeiro gewesen ist. Er wird nicht mit einem gefälschten Pass ins Flugzeug gestiegen sein, und er ist auch kein Mossad-Agent, sondern Gymnasiast.«
Avraham seufzte. Wie gut, dass sie das Fenster geöffnet hatte und frische Luft hereinströmte.
»In Ordnung, du hast gewonnen. Er ist nicht in Rio de Janeiro.«
»Und ich habe es hoffentlich auch geschafft, deine Gedanken von deiner angeblichen Schuld abzulenken und dir ein bisschen neue Energie und Lust auf den Fall zurückzugeben«, meinte sie und sah ihm so unverwandt in die Augen, dass es ihn schmerzte. »Ich verstehe nicht, wieso du immer noch manchmal so schnell einknickst. Und vor allem, weswegen. Jeder kleine Eyal Schärfstein schafft es, dich zu deprimieren, als wärst du derjenige, der seit vorgestern Polizist ist, und nicht er. Als wärst du nicht einer der besten Ermittler, die wir haben.« Ilana verstand es, über Dinge zu reden, über die er – aus Scham – niemals gewagt hätte zu sprechen. Und sie tat es auf eine Art, die ihn nicht verlegen machte. Ein einziges Mal, seit er sie kannte, hatte er geträumt, sie würde ihre Hand auf die seine legen, mehr nicht, bloß ihre kalte Hand. Das war bei einem ähnlichen Gespräch gewesen, in ihrem alten Büro. Im Laufe der Jahre hatte er vergessen, ob es damals ein echter Traum gewesen war oder ein Tagtraum, und hatte sich selbst untersagt, diesen Gedanken künftig noch einmal zu haben.
»Schärfstein verkrafte ich schon«, erwiderte er, »aber es ist wirklich nicht nur ein Schuldgefühl. Es geht auch darum, jemanden im Stich gelassen zu haben, der uns braucht. Und das wird bei solchen Fällen besonders deutlich. Die Familie stellt schließlich selbst Nachforschungen an. Sie hängen Zettel auf, organisieren die Suche, rufen Freunde von ihm an, und wir ermutigen sie, genau das zu tun. Ich meine: Ich ermutige sie. Ich habe der Mutter am Mittwochabend gesagt, sie solle nach Hause gehen und anfangen, seine Freunde abzutelefonieren. Du verstehst nicht, wie schwer es mir da fällt, diese Mutter allein in ihrer Wohnung zurückzulassen und nach Hause zu gehen, als wäre nichts passiert. Ich weiß, ich kann nicht anders, und es gibt auch keinen Grund, bei ihr zu bleiben, aber sie macht die schwerste Zeit ihres Lebens durch, und wir lassen sie allein und signalisieren ihr, den Großteil der Sucharbeit müsse sie schon selbst erledigen.«
»Genug, Avi, wir Polizisten sind nicht die Eltern der Bürger. Und die Polizei ist auch nicht allein verantwortlich für die Sicherheit der Bürger und ihr Wohlergehen, das weißt du selbst. Eltern müssen auf ihre Kinder aufpassen und
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