Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Erwachsene auf sich selbst. Wer begreift, dass die Polizei nicht wie Eltern rund um die Uhr auf ihn achtgibt, der weiß selbst auf sich aufzupassen, der lässt sich eine Sicherheitstür und eine Alarmanlage installieren, und der sucht auch selbst nach seinem Kind, wenn es verschwunden ist, was denkst du denn?«
Er schwieg. Es überraschte ihn, dass das Bild der Mutter, die auf ihren Sohn wartete, Ilana derart schmerzen oder verärgern könnte.
»Der Gedanke, Ofer Sharabi könnte ein Fall werden wie die vermisste Adi Jakobi oder der verschollene Soldat Guy Hever, bringt mich um«, sagte er schließlich. »Und dass zehn, fünfzehn Jahre ins Land gehen könnten und wir nicht wissen, was ihm passiert ist, ob er tot ist, ob er irgendwo lebt, rein gar nichts, außer dass er am Mittwochmorgen von zu Hause aufgebrochen und in der Schule nicht angekommen ist. Und was ihm zugestoßen ist auf dem Weg dorthin, für den er nicht mehr als zehn Minuten hätte brauchen sollen, werden wir, verdammt noch mal, dann nie erfahren.«
Abermals sah er Ofer vor sich, wie er mit seinem schwarzen Rucksack über der Schulter die Treppe herunterkam. Wie er auf die Straße trat, sich nach rechts wandte und in Richtung Schule ging. Menschen waren ihm begegnet, und niemand hatte ihn bewusst wahrgenommen. Und was, wenn er sich nicht nach rechts, sondern nach links gewandt hatte? Nicht weit von seinem Haus gab es einen kleinen Laden. Ohne zu wissen, warum, hatte Avraham Avraham an diesem Morgen auf dem Weg zum Revier dort angehalten. Hatte der Inhaberin ein Bild von Ofer gezeigt und gefragt, ob der Junge am Mittwoch bei ihr im Laden gewesen sei. Ein Foto hätte sie gar nicht benötigt, weil sie Ofer gut kannte. Er kam fast jeden Morgen, um Milch, frische Brötchen und Kakao zu kaufen, das hatte er schon als kleiner Junge gemacht. Sie war fast sicher, ihn aber am Mittwochmorgen nicht gesehen zu haben, und ihr Mann bestätigte ihre Aussage. Dann meinte sie plötzlich: »Warten Sie einen Moment, ich kann nachschauen«, und klappte ein dickes Heft auf, in dem sie für ihre Stammkunden anschrieb. »Sharabi – drei fünfzig – das war am Dienstag. Danach keine Einkäufe mehr«, sagte sie aufgeregt, als hätten sie Ofer soeben, dank ihrer Hilfe, ausfindig gemacht. Seine letzten Einkäufe hatten sich auf insgesamt vierundvierzig Schekel und sechzig Agorot belaufen. Neben der Summe hatte er mit grünem Kuli unterschrieben.
Ilana versuchte, seine Befürchtungen zu zerstreuen: »Er ist kein neuer Guy-Hever-Fall, bei dem ein junger Soldat spurlos verschwindet, das ist eine ganze andere Geschichte, und das weißt du.«
Doch er fuhr unbeirrt fort, als hätte er sie gar nicht gehört: »Und die ganze Ermittlung spielt sich in einem Radius von ungefähr zwei Kilometern ab, verstehst du? Das ist doch das Absurde. Die Familie wohnt anderthalb Kilometer von der Schule entfernt, unser Revier befindet sich genau auf halbem Weg dorthin, und sogar meine Wohnung liegt nur fünf Autominuten entfernt. Das ist hier wie ein Dorf. Und trotz aller technischen Hilfsmittel und aller Schärfsteins, die sich so gut mit dem Internet und den Medien auskennen, hat niemand diesen Jungen auf dem Weg von seinem Zuhause zur Schule gesehen, hat niemand ihn sonst irgendwo gesehen, weiß niemand irgendetwas über die Familie. Das ist einfach unglaublich.«
»Die Befragung seiner Freunde und der Nachbarn hat wirklich überhaupt nichts gebracht?«
»Nahezu. Im Haus gibt es einen Nachbarn, der ein bisschen sonderbar wirkt. Er hat gestern auch bei der Suche geholfen und versteift sich darauf, Ofer besser zu kennen als irgendjemand sonst. Ich werde ihn zur weiteren Befragung aufs Revier bestellen, morgen vielleicht, nachdem wir mit dem Vater gesprochen haben.«
»Das solltest du. Und außerdem solltest du dich auf deine Reise vorbereiten, oder? Wann fliegst du?«
»In einer Woche. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt fliege. Vielleicht storniere ich.«
»Wieso denn? Das ist eine Dienstreise von gerade mal sechs Tagen, und wenn wir die Ermittlung bis dahin nicht abgeschlossen haben, kann sie auch ohne dich weiterlaufen, vorausgesetzt, wir haben die Sache dann überhaupt noch in der Hand.«
Er wollte nicht glauben, dass sie so etwas sagte, obendrein eine Sekunde, bevor sie ihn bitten würde, ihr Büro zu verlassen, weil sie schleunigst losmusste.
»Was soll das heißen?«
»Wir hoffen doch alle, dass wir in einer Woche nicht mehr in dieser Sache ermitteln müssen, oder? Und
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