Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
erwartet mit dem Tod der greisen Mutter. Erleichtert setzte sie sich wieder auf ihren Platz. Es wurde nicht geklatscht, darauf hatten sie sich in der ersten Stunde geeinigt. Obgleich sie wussten, dass er keinen Kommentar abgeben würde, schauten alle Schüler auf Michael, der in seiner üblichen Zuhörhaltung auf dem Stuhl saß, den Rücken gekrümmt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Stirn auf beide Fäuste, das Gesicht vor den Blicken der Teilnehmer verborgen. Alle versuchten zu erraten, was er dachte, und es war totenstill im Raum. Michael kostete diese Stille aus. »Schweigen ist eine wichtige Reaktion auf eine Geschichte«, hatte er in der ersten Stunde gesagt.
»Natürlich geht der Inhalt zu Herzen, aber ich denke, die Erzählung ist als literarischer Text misslungen.« Wie schon in den vorangegangenen Stunden war es Avner, der die Stille brach, der Mann in Seevs Alter, der sich als Journalist vorgestellt hatte. Bereits in der ersten Stunde hatte er in dem Workshop die Rolle des unartigen Kindes übernommen, und er genoss sichtlich die Position des tragikomischen Provokateurs, auch gegenüber Michael. »Ich glaube nicht an die Katharsis, die die Figur im letzten Moment durchlebt«, sagte er jetzt. »Das ist mir zu aufgesetzt. Die ganze Erzählung über zürnt sie ihrer Mutter, und dann plötzlich wird sie weich. Ohne dass mir verständlich wird, warum.« Seine übliche Reaktion. Nie begriff er, wie Menschen sich verändern konnten, und jeder emotionale Umschwung erschien ihm willkürlich und mechanisch.
Wie würde er wohl die Veränderung erklären, die sich bei Seev vollzogen hatte, all das, was seit der letzten Woche mit ihm passierte? Mehr denn je hegte Seev Zweifel, ob eine tiefgreifende emotionale Veränderung überhaupt zu verstehen war. Um Viertel vor acht hatte er am Morgen das Schulsekretariat angerufen und mitgeteilt, er sei krank. Den ganzen gestrigen Tag, nach dem Gespräch mit Inspektor Avraham in den Dünen, hatte er im Bett verbracht. Als Michal mit Ilay am Nachmittag von ihren Eltern zurückkam, hatte er Fieber und schlief. Vielleicht hatte er im Schlaf vor sich hin gemurmelt. Mitten in der Nacht war er aufgewacht, hatte sich Tee mit Milch gemacht, hatte sich ins Wohnzimmer gesetzt und gewartet. Es war so still, wie sich das für drei Uhr nachts gehörte, und jedes Rascheln aus dem Nebenzimmer ließ ihn zusammenzucken. Ganz allmählich begriff er, dass schon mehr als zwölf Stunden seit der Unterhaltung mit Avraham und seinem Versprecher vergangen waren und noch niemand gekommen war, um ihn zu verhaften. Allem Anschein nach würde auch niemand mehr kommen. Jetzt hätte er seinen Unterricht vorbereiten können, er beschloss aber trotz allem, am nächsten Morgen nicht zur Arbeit zu gehen. Der Gedanke, es könnten Polizisten in seine Klasse kommen, entsetzte ihn. In seiner Phantasie wurde er bereits in Handschellen über den Schulhof abgeführt, während Lehrer und Schüler das Schauspiel durch die hohen Fenster verfolgten. Nach fünf Uhr morgens war er wieder ins Bett gegangen. Den Großteil des Tages hatte er dann in Tel Aviv verbracht. Hatte sich einen zeitgenössischen englischen Film im Lev-Kino angeschaut. Zu Hause wollte er nicht sein. Zu Wochenbeginn passte seine Schwiegermutter immer auf Ilay auf.
Die eine Studentin beeilte sich, die ältere Teilnehmerin zu verteidigen: »Was soll das heißen? Natürlich gibt es einen Grund. Ihr fällt ein, was im Bus geschehen ist.«
»Hatte sie das etwa vergessen? Und warum fällt ihr das ausgerechnet jetzt ein? Dafür muss es doch eine literarische Herleitung geben, oder?«
Michael schwieg noch immer, und auch Seev sagte kein Wort. Er hatte sich während des Workshops noch nicht geäußert und auch noch keine Erzählung zu Papier gebracht. Er beobachtete und machte sich ein paar Notizen in seinem schwarzen Heft. Sein Schweigen weckte vermutlich die Neugier der anderen Teilnehmer auf seine Meinung zu ihren Texten. Vielleicht auch die von Michael, der ihn nach der letzten Stunden bei ihrem Gespräch im Wagen eindringlich gebeten hatte, im Workshop doch auch einmal etwas von sich vorzulesen, ohne dass er ihn unter Druck setzen wolle, natürlich. Das war vor einer Woche gewesen oder genauer gesagt vor der Sache mit Ofer und dessen Mutter, vor Inspektor Avrahams Erscheinen, dem Anruf bei der Polizei und der Suchaktion in den Dünen. Er wusste noch nicht, ob er Michael am heutigen Abend auf dem Heimweg im Wagen etwas davon erzählen würde. Sie
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