Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
er ihm noch nie persönlich begegnet war. Vor einem halben Jahr hatten sie telefoniert, im Zusammenhang mit der Ermittlung gegen einen Autodieb aus einem Dorf bei Nablus, der in Bat Yam gefasst worden war. Der Inlandsgeheimdienst hatte die Polizei von dem Fall entbunden, weil der junge Palästinenser auch des illegalen Grenzübertritts und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verdächtigt wurde. Sein zehn Jahre älterer Bruder war wegen der Beteiligung an entsprechenden Aktivitäten bereits zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt worden. Schon damals hatte »Uri vom Dienst« mit ihm gesprochen wie ein Restaurantbesitzer mit einer Aushilfsspülkraft, obgleich er vielleicht jünger war als Avraham Avraham und einen niedrigeren Dienstgrad innehatte. Wie auch immer, Avraham hatte es nicht gewagt, gegen Uri aufzubegehren, als der um die Zusendung der Akte mit den Ermittlungsergebnissen bat, die sie in mühsamer, wochenlanger Arbeit zusammengetragen hatten.
»Ich wollte dich nur darüber informieren, dass uns zum jetzigen Zeitpunkt dein Vermisster nicht die Bohne interessiert. Wir haben uns die Sache angesehen, von einer feindseligen terroristischen Aktion kann keine Rede sein. Aber sobald dir im Verlauf der Ermittlungen auch nur ein Buchstabe auf Arabisch unterkommt, schickst du mir sofort ein Morsezeichen, ist das klar?«
»Ja«, stieß er hervor.
»Ausgezeichnet. Das nennt man wohl eine reibungslose Zusammenarbeit der zuständigen Sicherheitsorgane.«
Von wo aus rief er an? Wo genau befand sich das Büro dieses »Uri vom Dienst« eigentlich? Avraham Avraham dachte für einen Moment darüber nach, dass es in Israel noch eine zweite Polizei gab, über die er so gut wie nichts wusste, eine eigene Polizei nur für Ermittlungen gegen Araber. Ohne Reviere, ohne Telefonnummern. Er wagte zu fragen: »Gut, brauchst du noch irgendetwas?«
Und die jugendliche Stimme erwiderte: »Ja, jetzt, wo du fragst, ich hab noch eine kleine Sache. Eine Überraschung, die ich extra für dich vorbereitet habe. Kann’s losgehen? Ein kleines Vögelchen hat mir zugeflüstert, dich beschäftigt die Frage, warum es in Israel keine Kriminalromane gibt. Habe ich recht oder nicht?«
Ein Schauder lief Avraham über den Rücken. Ausgeschlossen, dass der Inlandsgeheimdienst mithörte, was in den Vernehmungsräumen der Polizei gesagt wurde, oder die Telefone der Ermittler angezapft waren. Das war vollkommen unmöglich. Irgendein Kollege hatte ihm sicher davon erzählt.
»Was?«, sagte er. »Das hab ich nicht verstanden.«
»Doch, doch. Ein Singvögelchen. Also, hör zu, wir haben hier eiligst eine Teamsitzung abgehalten und die Angelegenheit diskutiert, und herausgekommen ist unsere offizielle Antwort an dich. Willst du sie hören?«
Nein, sagte er sich, das wollte er nicht.
»Die Antwortet lautet, dass Polizisten in diesem Land mit Bagatelldelikten betraut sind, über die niemand etwas lesen möchte oder gar auf den Gedanken käme, ein Buch darüber zu schreiben. Und die meisten dieser Polizeibeamten sind auch nicht besonders helle. Die wirklich wichtigen Ermittlungen führen wir vom Schabak, doch über uns weiß man nichts, und selbst wenn jemand etwas weiß, darf er kein Wort darüber schreiben. Hast du das verstanden verstanden?«
6
Mit zitternder Stimme näherte sich die ältere Frau dem Ende ihrer Geschichte. Sie beschrieb ihre Mutter, wie sie aus einem klapprigen Bus auf eine Jerusalemer Straße trat, und den heftigen Regen, der ihr übers Gesicht strömte. Immer wieder brach sie mitten im Satz ab, seufzte und holte tief Luft, um ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen, jedoch ohne Erfolg. Vielleicht hoffte sie, man würde annehmen, der Inhalt ihrer Geschichte berührte sie derart, und nicht die Tatsache, dass sie ihren Text vor den Teilnehmern des Workshops las, laut und im Stehen.
Seev hatte sich den Namen der älteren Frau nicht gemerkt, die nun jeden Augenblick vor lauter Aufregung zu ersticken drohte. Als er sie vor Beginn der ersten Stunde gesehen hatte, hatte er sich gleich wieder verabschieden wollen. In dem kleinen Raum hatten zehn Stühle in einem Kreis gestanden, und sie saß auf einem davon und sah aus, als hätte sie eher in eine Bridgerunde gepasst. Erst als ein, zwei Minuten später ein Mann den Raum betrat, der in Seevs Alter zu sein schien, und gleich darauf zwei junge Frauen auftauchten, die sich zu Beginn der Stunde als Studentinnen vorstellten, entschloss er sich zu bleiben.
Ihre Geschichte endete wie
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