Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
geradeaus weiterzufahren. »Das macht nichts«, sagte Michael, »du kannst irgendwo wenden, aber das wäre ein Umweg für dich, lass mich einfach hier raus.« Und dann fragte er: »Sag mal, Seev, wann liest du etwas vor? Ich frage dich nicht im Kurs, weil ich euch nicht unter Druck setzen will.«
Seev war drauf und dran, ihm zu erzählen, dass er das Gefühl hatte, dass er kurz davor sei, einen Text zu verfassen. Endlich, nach Jahren. Er hatte Ofers Gesicht vor Augen, als er es zum letzten Mal gesehen hatte, und überlegte, wie er es beschreiben sollte – den Flaum über der Oberlippe, das schüchterne Lachen. Seit drei Tagen wusste er, was er schreiben würde, doch noch hatte er die richtigen Worte nicht gefunden. Aber sie lagen ihm förmlich auf der Zunge.
»Ich denke, diese Woche werde ich etwas schreiben«, antwortete er. »Ich glaube, ich habe mein Thema gefunden, mit deiner Hilfe.« Aber Michael schwieg, fragte nicht nach, weshalb er hinzufügte: »Und was ist mit dir? Schreibst du gerade an etwas?«
Sie standen an einer roten Ampel. Michael seufzte und veränderte seine Sitzhaltung. Nur mit Mühe brachte er seine langen Beine in dem kleinen Auto unter.
»Ich schreibe immer«, sagte er schließlich. »Aber ich glaube, ich habe seit Monaten nichts mehr zu Papier gebracht, hinter dem ich stehen würde und das ich veröffentlichen könnte. Deswegen habe ich mich auch bereiterklärt, den Workshop zu leiten. Ich hoffe, er löst auch für mein Schreiben etwas aus.«
Seev hatte den Eindruck, Michaels Seufzer und sein freimütiges Geständnis würden sie einander noch näher bringen. Er hatte Michaels letztes Buch, das vor zwei Jahren erschienen war, gelesen. Anfangs unter starken Vorbehalten, weil der Autor so jung war, dann staunend und schließlich voller Bewunderung. Michael hatte bislang drei Bücher veröffentlicht, zwei Bände mit Erzählungen und einen kurzen Roman, und auch wenn sich die Bücher nicht gut verkauft hatten, sie waren hoch gelobt worden.
Michaels rotes T-Shirt verströmte denselben strengen Geruch, der auch von dem schwarzen Sweatshirt, das er in der Vorwoche getragen hatte, ausgegangen war, und Seev überlegte, ob dies wohl der Geruch seiner Haut war.
»Hast du manchmal längere Phasen, in denen du nichts schreibst?«, fragte Seev.
»Ich schreibe immer, aber es gibt Phasen, in denen ich nichts Gutes zustande bringe.«
»Wer entscheidet, was gut ist?«
»Ich.«
Seev lachte, doch Michael blieb ernst, als wäre seine Antwort nicht im Geringsten amüsant. Also fragte Seev weiter: »Und wie hast du angefangen zu schreiben?«
»Ich erinnere mich nicht mehr daran«, entgegnete Michael. »Ich weiß noch, dass ich als Schüler in der Grundschule immer geschrieben habe. Ich saß in der Klasse, bekam nicht ein Wort von dem mit, was die Lehrerin sagte, und schrieb Gedichte.«
Seev hasste diese Antwort, wenn Schriftsteller sie in Zeitungsinterviews gaben. Er selbst hatte sich nie herausgenommen, auch nur ein Wort von dem zu versäumen, was die Lehrer sagten, und seine stärkste Erinnerung an die Grundschulzeit war die beständige Furcht, eine der Lehrerinnen könnte sich mit einer Frage an ihn wenden.
Michael drehte das Radio leiser. »Seit wann schreibst du denn?«, fragte er. »Irgendwie habe ich den Eindruck, dass du kein Workshop-Typ bist und eigentlich sehr genau weißt, was und wie du schreiben möchtest.«
Diese Worte trafen Seev wie ein Schlag. War es ihm doch nicht gelungen, die Wahrheit vor Michael zu verbergen, oder hatte der mit seiner Einfühlungsgabe sogar etwas erfasst, dessen sich Seev selbst noch nicht bewusst war, hatte er bei Seev eine innere Wahrheit erkannt, an die Seev selbst noch nicht zu glauben wagte?
»Ich schreibe überhaupt nicht, wer hat dir gesagt, ich würde schreiben.« Er lachte, um seine Aufregung zu überspielen. »Die Wahrheit ist, ich bin vollkommen zufällig in den Workshop geraten. Das war überhaupt nicht geplant. Ich bin am Ariela-Haus vorbeigekommen, habe den Aushang gesehen und beschlossen, mal reinzuschauen – nicht um schreiben zu lernen, sondern mehr, um zu sehen, wie so ein Kurs abläuft und worüber die Leute schreiben. Geblieben bin ich, weil mich deine Einführung sehr beeindruckt hat und ich das Gefühl hatte, gerade von dir etwas lernen zu können. Und ich denke, so ist es in der Tat. Ich spüre, dass ich kurz davor bin zu schreiben.«
In diesem Moment war Seev dicht an einem Geständnis. Doch Michael reagierte verlegen, er wusste
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