Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
nicht versucht hättest, literarisch zu werden. Das ist zumindest meine Meinung. Mag sein, dass es Leser gibt, die anders darüber denken. In deiner Erzählung findet sich ein aktiver Schmerz, und mir scheint, dass du dich, wenn dieser Schmerz übergroß wird, vor ihm in die Literatur flüchtest, also in die Literatur in Anführungszeichen, zur Stilisierung, zu altbekannten Gestaltungsmitteln, zu Analogien und Symbolen. Doch in der Realität gibt es keine Analogien und Symbole wie den Regen etwa, der das Gesicht der Mutter überspült, oder die Szene am Schluss, als die Tochter ihrer Mutter die Augen schließt und auf Polnisch ›Verzeih mir, Liebste‹ zu ihr sagt, also die Worte der Mutter im Bus wiederholt.«
Zwischen der provozierenden äußeren Erscheinung Michael Rosens und der Sanftheit und dem Einfühlungsvermögen, die sein Reden auszeichneten, bestand eine Unvereinbarkeit, die Seev immer wieder überraschte. Der Dozent hatte einen wilden, ungepflegten Bart, und seine Augen waren stets gerötet. Als sie in der vergangenen Woche nebeneinander in Seevs Wagen gesessen hatten, hatte Michaels schwarzes Sweatshirt penetrant nach Zigarettenqualm und Schweiß, ja vielleicht auch nach Alkoholdunst gerochen. Seev hatte versucht, sich Michaels Wohnung vorzustellen, sein Arbeitszimmer. Überquellende Aschenbecher, Bücherstapel und halbleere Weinflaschen auf dem Schreibtisch. Michael würde ihn wohl auch an diesem Abend am Ende ihrer gemeinsamen Heimfahrt nicht in seine Wohnung einladen. Aber in den Wochen, die bis zum Ende des Workshops noch blieben, konnte dies durchaus einmal passieren.
Michael ließ seinen Blick unverändert wohlwollend auf der Frau ruhen, während er fortfuhr: »Du wolltest der Geschichte ein harmonisches Ende geben, und deshalb hast du am Schluss die Tochter die Worte der Mutter wiederholen lassen. Aber die Geschichte hätte, zumindest in meinen Augen, so nicht enden dürfen. Eine Versöhnung findet ja nicht wirklich statt. Aber ich denke, du wolltest ein harmonisches Ende, weil die Menschen meinen, Literatur – oder Schönheit in der Kunst allgemein – sei Harmonie, während Zorn keine Literatur abgeben würde. Meiner Meinung nach ist es aber völlig unerheblich, was Literatur sein soll. Ich habe euch in der ersten Stunde bereits gesagt, ich kann und will euch nicht helfen, Literatur zu verfassen. Ich will euch helfen zu schreiben.«
»Was ist schlecht daran, Literatur zu verfassen?«, fragte die eine Studentin. »Schreiben können wir alle.«
»Das ist nicht schlecht, Eynat, es bedeutet nur einfach, die Worte und Schablonen von jemand anderem zu benutzen. Das Mädchen, das im Bus ist, sieht mit Sicherheit in dem regennassen Gesicht der Mutter keine Tränen. Und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass die Frau, die im Krankenhaus am Bett ihrer Mutter sitzt, nicht um Verzeihung bittet, als diese stirbt. Sie ist verstört. Gerät in Panik. Tod ist nichts Harmonisches, Tod ist etwas Erschreckendes. Und meiner Meinung nach ist gerade das Erschreckende das Interessante beim Schreiben. Außerdem stimme ich nicht mit dir überein, dass alle schreiben können. Erinnert euch daran, was ich euch in der ersten Stunde vorgelesen habe, die Stelle aus Kafkas Brief an Oskar Pollak.« Er schloss die Augen und zitierte aus dem Gedächtnis: »›Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.‹ Beachtet, dass Kafka nicht über Literatur, sondern nur über Bücher spricht.«
Michael ließ seinen Blick über die Gesichter seiner Schüler wandern, bis er bei Seev hängen blieb. Sah er, was Seev selbst noch nicht wusste, dass dies der Moment war, in dem das Schreiben in ihm geboren wurde? Oder war das bereits in dem Moment der Fall gewesen, als sie zusammen im Wagen gesessen hatten? Ihr Gespräch war direkter und persönlicher geworden, und Seev hatte plötzlich das Gefühl, Michael wollte ihm etwas signalisieren, so als wüsste er Bescheid.
Die ältere Frau, die ganz offenbar einmal das Mädchen gewesen war, das seine Mutter aus dem Bus getrieben hatte, hatte sich vom Vorlesen erholt und wagte nun, Michael zu antworten: »Aber das ist doch das Thema, über das
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