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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Mishani
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vielleicht nicht, wie er das Kompliment nehmen sollte, und im Wagen herrschte für eine Weile Schweigen.
    Sie waren jetzt am Yad-Eliyahu, und Michael schaute mit geröteten Augen durch die Windschutzscheibe. »Das ist eine ziemlich gute Gegend hier«, sagte er. »Ich überlege herzuziehen. Die Mieten sind viel niedriger als in unserer Ecke.«
    Seev erwiderte umgehend: »Ja, das ist der Wahnsinn in Tel Aviv.«
    Der Moment war vorüber.
    »Wir überlegen auch umzuziehen«, fuhr Seev fort. »Der Vermieter will die Miete erhöhen, und wir brauchen ohnehin eine größere Wohnung, mit einem Zimmer für den Kleinen. Mit zwei Lehrergehältern lässt sich heutzutage in Tel Aviv kaum noch eine Wohnung für eine Familie finanzieren.«
    »Wohin wollt ihr ziehen?«
    »Vielleicht nach Cholon, obwohl, wir zögern noch. Es fällt uns furchtbar schwer, Tel Aviv zu verlassen. Mir zumindest.«
    »Ich würde ohne weiteres nach Cholon ziehen«, sagte Michael. »Das scheint mir der richtige Ort zu sein.«
    Seev fragte überrascht: »Der richtige Ort wofür?«
    »Der richtige Ort zum Leben und Schreiben. Ich bin es leid, über Tel Aviv zu schreiben. Ich spüre, dass ich nach einem Weg suche, einfacher zu schreiben, und vielleicht muss man dafür ein einfaches Leben unter einfachen Menschen führen. Manierierte Literatur ist mir so zuwider. Aber ich weiß nicht, vielleicht ist das naiv gedacht.«
    Jetzt war er es, der Michaels Stachel zu spüren bekam. »Du hasst die Literatur wirklich, nicht wahr?«, sagte Seev daher.
    Aber Michael antwortete: »Nein, nein, ich hoffe nicht, dass es im Workshop so klang. O Gott, ich habe das Gefühl, ihr habt mich wirklich nicht verstanden. Vielleicht bin ich in einer zu aggressiven Stimmung gekommen, und das hat sich auf euch ausgewirkt. Ich muss diesen Eindruck beim nächsten Treffen unbedingt korrigieren. Ich versuche einfach, euch zu helfen, euch von der Frage freizumachen, was Literatur ist und was nicht, damit ihr mit eurem Schreiben sagen könnt, was ihr zu sagen habt. Der stärkste Text, der je geschrieben wurde, zumindest in meinen Augen, ist nicht als Literatur verfasst worden. Kennst du Kafkas ›Brief an den Vater‹?«
    Er schämte sich einzugestehen, dass er diesen Brief nicht gelesen hatte, doch noch beschämender wäre es, bei einer Lüge ertappt zu werden, wenn er das Gegenteil behauptete. Stellte ihm Michael diese Frage, weil er ihn bereits unter die einfachen Menschen, die ein einfaches Leben führten, einsortiert hatte? Er hätte ausweichend antworten können, aber er beschloss, die Wahrheit zu sagen.
    »Ausgezeichnet, ich werde euch einen Auszug daraus mitbringen, denn er ist ziemlich lang. Es gibt jetzt sogar eine Neuübersetzung davon. Den Brief hat Kafka seinem Vater 1919 geschrieben, einige Jahre vor dessen Tod, doch er hat ihn dem Vater nie geschickt. Überleg dir das einmal, einer der größten literarischen Entwürfe der Geschichte überhaupt wurde nicht als literarisches Werk geschrieben, sondern war nur für einen einzigen Leser bestimmt, und auch der sollte den Text am Ende nicht lesen. Das macht mich jedes Mal sprachlos, wenn ich darüber nachdenke. So möchte ich schreiben, als richtete sich mein Text nur an einen einzigen Adressaten, den ich erschüttern möchte. Kafkas Brief beginnt mit den Worten: ›Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir.‹ Wunderbar, nicht?«
    Und genau in diesem Moment tauchten die ersten Worte vor Seevs innerem Auge auf.
    Was am Nachmittag und vielleicht auch schon in den vergangenen Tagen eine Idee gewesen war, für die sich noch keine Worte gefunden hatten, fügte sich mit einem Mal zu einem klaren Text, der nur noch auf einem Blatt Papier niedergeschrieben werden musste.

    Die Stunden danach unterschieden sich sehr von den Stunden vor und nach dem Anruf bei der Polizei in der Nacht vom Freitag. Diesmal handelte er nicht überhastet und verlor nicht für einen Augenblick den Überblick. Alles erfolgte aus einer inneren Stille heraus. Nichts erinnerte mehr an die Angst, die ihn gestern Nachmittag befallen hatte und auch noch nicht gänzlich verflogen gewesen war, als er nachts aufgewacht war. Alles war genau so, wie er sich vorgestellt hatte, dass es beim Schreiben sein würde.
    Nachdem er sich von Michael verabschiedet hatte, fuhr er vom Yad-Eliyahu nicht gleich nach Hause. Er rief Michal an und fragte, ob er etwas später kommen könnte. Sagte, er habe vor, sich noch einen Film anzuschauen, und erst

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