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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Mishani
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prall gefüllten Müllbeutel, der die Erklärung für die Handschuhe abgeben sollte, falls ihn jemand sehen würde. Selbstverständlich begegnete er niemandem. Er ließ die Stromrechnung in seinen eigenen Briefkasten gleiten und fingerte sie wieder hervor, und mit derselben Bewegung schob er den braunen Umschlag in den Briefkasten der Familie Sharabi. Eine Ecke des Umschlags schaute aus dem Schlitz heraus. Der Brief war unmöglich zu übersehen. Dann streifte Seev die Handschuhe ab, stopfte sie in den Müllbeutel und entsorgte ihn in dem Raum mit den Mülltonnen.
    Danach saß er eine Weile auf dem Balkon am Schreibtisch. Die Lamellen der Sonnenblenden standen offen, und der Computer lief. Er war immer noch nicht aufgeregt. Das war sonderbar. Er verspürte eine zielgerichtete Anspannung, aber keine Aufregung. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand zu so später Stunde noch heimkam oder das Haus verließ, war äußerst gering, aber er konnte jetzt nicht schlafen gehen. Vielleicht fühlte er sich wie ein junger Autor, der ungeduldig auf die Morgenzeitung wartete, in der seine erste Erzählung abgedruckt war.
    Aber irgendjemand aus dem Haus konnte die Treppe hinunter zu den Briefkästen gegangen sein und den Umschlag an sich genommen haben, ohne dass Seev ihn gesehen hatte, durchfuhr es ihn mit einem Mal. Er fand die Schlüssel des Motorrollers und verließ die Wohnung, um vermeintlich etwas im Fach unter der Sitzbank des Rollers zu suchen. Als er an den Briefkästen vorbeikam, sah er, dass der Umschlag noch da war. Anschließend surfte er ein wenig im Internet und aß die Reste der Melone.
    Gerade als er den Computer ausschalten wollte, hörte er einen Wagen vor dem Haus halten. Die Beifahrertür wurde geöffnet, die Kofferraumklappe ebenfalls, und aus dem Auto stieg ein Mann. Es war Ofers Vater. Er holte einen kleinen Koffer aus dem Kofferraum, umrundete das Fahrzeug und drückte dem Taxifahrer durch das heruntergelassene Fenster die Hand. Dann ging er mit dem Koffer in der Hand über den gepflasterten Weg zur Haustür und verschwand im Treppenhaus.
    Es war halb zwei Uhr morgens.

7
    Rückblickend betrachtet war das der Tag, an dem sich der Gang der Ermittlung änderte.
    Aber an jenem Tag selbst bemerkte Avraham Avraham nichts davon. Es sollten noch einige Tage vergehen, bis er begriff, dass sich die Ermittlung in mehrere Richtungen entwickelte, an die er zuvor nicht gedacht hatte. Aber da war er bereits in Brüssel.
    Dennoch, als er am Montagabend zu Fuß nach Hause ging, abermals auf der Walkingstrecke, die die Fischmann mit Kiryat Sharet verband, wusste Avraham, dass der seit Mittwochmorgen vermisste Junge nicht mehr vollkommen spurlos verschwunden war. Zum ersten Mal seit dem Beginn der Ermittlung hatte er nicht nur dessen Gesicht auf den Fotos, die er bekommen hatte, betrachtet, sondern hatte auch seine Stimme auf sich wirken lassen können, hatte seine Gedanken gehört.

    Um halb acht an jenem Morgen hatte er mit Ofers Vater, der erst nach Mitternacht gelandet war, telefoniert und ihn aufs Revier gebeten. Danach hatte er Seev Avni angerufen, den Nachbarn, dessen Befragung er am Tag zuvor verschoben hatte. Aber er verpasste ihn um wenige Minuten, seine Frau sagte, er sei schon unterwegs zur Arbeit, und gab ihm seine Handynummer. Er rief an, und niemand meldete sich, wie Michal Avni vorhergesagt hatte: Er habe mehrere Schulstunden am Stück und könne nur in den kurzen Pausen zwischen den Unterrichtsstunden Anrufe entgegennehmen. Avraham Avraham hinterließ keine Nachricht.
    Inzwischen war er wieder bei Igor Kintjew, um den Fall abzuschließen, bevor er an die Bezirksstaatsanwaltschaft Tel Aviv übermittelt wurde. Am Vortag hatte er, nach der Teambesprechung derart aufgewühlt, dass er wie gelähmt gewesen war, und auch, weil Ilana ihn angewiesen hatte, sich ganz auf den Vermisstenfall zu konzentrieren, eine weitere Vernehmung Kintjews abgesagt. Dafür würde er auch später noch Zeit haben. Am Mittwoch würde die Staatsanwaltschaft ihre Klage einreichen und Untersuchungshaft bis zum Ende des Verfahrens beantragen. Jetzt war Avraham dabei, die Geständnisse zusammenzufassen und das übrige Untersuchungsmaterial zu sichten. Die Gespräche mit Kintjew kamen ihm im Nachhinein immer sonderbarer vor, als er nun die Mitschriften las. Etwa Kintjews Geständnisse zu Straftaten, die nicht Gegenstand der Untersuchung waren, die Brandstiftungen zum Beispiel und die Geschichte von seinem Versuch, einer greisen Verwandten einen

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