Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
danach fiel ihm der englische Film wieder ein, den er am Morgen gesehen hatte. Er würde ihr davon erzählen können, ohne zu lügen. In einem Café am Masaryk-Platz setzte er sich ans Fenster und bestellte einen Kräutertee.
Und plötzlich schrieben sich die ersten Worte wie von selbst in sein schwarzes Heft:
Papa, Mama,
ich weiß, dass Ihr schon seit ein paar Tagen nach mir sucht, aber ich rate Euch, damit aufzuhören, denn Ihr werdet nichts finden, auch die Polizei wird nichts finden, nicht einmal mit ihren Spürhunden.
Auf den Zetteln, die Ihr in den Straßen aufgehängt habt, steht, ich sei am Mittwochmorgen verschwunden, aber wir drei wissen, dass das nicht stimmt. Wir drei wissen, dass ich schon vor langer Zeit verschwunden bin, dass ich verschwunden bin, ohne dass Ihr es bemerkt habt, eben weil Ihr gar nichts bemerkt habt und auch nicht, dass ich nicht eines Tages verschwunden bin, sondern dass es ein schrittweiser Prozess des Verschwindens war. Am Ende habt Ihr gedacht, ich wäre noch immer zu Hause, nur, weil Ihr niemals versucht habt, richtig hinzuschauen.
Ich frage mich, warum Ihr ausgerechnet jetzt nach mir sucht, warum Ihr Euch ausgerechnet jetzt an die Polizei wendet, warum Ihr das nicht schon in den Jahren und Monaten getan habt, in denen die Schrift an der Wand war. Früher habe ich gedacht, dass Ihr wohl zu beschäftigt mit Euch selbst und Eurem Leben wart, aber das war ein kindischer Gedanke, der sich erledigt hat, weil ich den wahren Grund nun begriffen habe. Es fällt Euch einfach schwer, Nähe zu empfinden, weil alle Menschen Angst davor haben, wirklich zu sehen, was mit dem anderen passiert, vielleicht besonders, was mit ihrem Kind passiert, vor allem wenn es anders ist, anders als sie selbst, ihnen unverständlich, ein Eigenbrötler.
Ich weiß, dieser Brief wird Euch wehtun, aber anscheinend möchte ich, dass Euch etwas wehtut, wie es mir wehgetan hat. Ihr hättet das verhindern können und habt es nicht getan, habt Euch an mich erinnert, als es zu spät war.
Ihr werdet Euch sicherlich fragen, wo ich jetzt bin und von wo ich schreibe – ich kann nur sagen, dass ich mich an einem weit entfernten Ort aufhalte, einem Ort, an dem alles gut ist.
Schon nicht mehr der Eure,
Euer Sohn Ofer
Er las den Brief mehrere Male in dem Café. Dabei verspürte er weder Freude noch Befriedigung. Nur einen Hunger, präzise zu sein, die richtigen Worte zu finden und die falschen zu tilgen. Er stellte Sätze um und verschob sie, siebte aus den Formulierungen alles heraus, was ein Jugendlicher in Ofers Alter nicht in der Lage wäre zu schreiben. Was nicht Ofers Stimme entsprechen konnte.
Als er nach Hause kam, fragte ihn Michal: »Wie fühlst du dich?«
Und er antwortete: »Ausgezeichnet.«
Sie saßen im Wohnzimmer, und Michal schnitt eine Honigmelone in Stücke, die erste in diesem Sommer. Er erzählte ihr von dem englischen Film und sie ihm von ihrem Tag in der Schule und dem Abend mit Ilay, der noch unruhiger als sonst und quengelig gewesen sei und nach seinem Vater gesucht habe. Um halb zwölf sagte sie, sie gehe jetzt schlafen, und fragte, ob er auch ins Bett komme.
»Ich glaube, ich möchte noch etwas schreiben«, erwiderte er und lächelte.
Sie sah ihn erstaunt an und stellte fest: »Es ist also so weit.«
Seev setzte sich auf den zum Arbeitszimmer umfunktionierten Balkon an den Schreibtisch, aber erst nachdem er verstohlen ins Schlafzimmer geschaut und sich vergewissert hatte, dass Michal eingeschlafen war, holte er aus seiner Tasche ein Paar Erste-Hilfe-Handschuhe, die er auf dem Nachhauseweg in einer Apotheke gekauft hatte, und zog ein weißes, glattes Blatt aus einer neuen Packung Druckerpapier. Langsam schrieb er die Zeilen ab, die im Café entstanden waren. Dabei rundete und spreizte er seine eigentlich gedrängte, spitze Handschrift. Die Worte »in denen die Schrift an der Wand war« übertrug er nicht, weil sie ihm zu klischeehaft erschienen, und auch den Ausdruck »Eigenbrötler« übernahm er nicht, weil ihn Ofer gewiss nicht verwenden würde. Am Ende des Briefes, nach »Ofer«, fügte er »Fortsetzung folgt« hinzu. Mithilfe eines Lineals faltete er den Brief und ließ ihn in einen braunen Umschlag von mittlerer Größe gleiten.
Da er, als er nach Hause kam, gesehen hatte, dass Michal die Post bereits aus dem Briefkasten geholt hatte, griff sich Seev in der Küche aus dem Korb mit den Briefen eine noch ungeöffnete Rechnung ihres Stromversorgers und mit der anderen Hand den
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