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Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst

Titel: Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dror Mishani
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drei oder vier Fächern zugeteilt. Seine Eltern wollten aber, dass er fünf belegte. Seev erklärte, er habe den Eindruck gehabt, dass vor allem Ofers Mutter Wert darauf legte. Hannah. Er habe nicht gleich zugesagt, weil er zuvor noch nie Privatunterricht erteilt hätte. Letztlich aber habe er sich bereiterklärt, zum einen, weil sie Nachbarn waren, vor allem aber, weil ihm Ofer durch seine Schüchternheit aufgefallen war. Er habe vorgeschlagen, einen Versuch zu unternehmen.
    Avraham fragte knapp: »Nachhilfestunden gegen Bezahlung?«
    »Natürlich. Obwohl ich genau weiß, dass ich es nicht wegen des Geldes getan habe. Ich habe neunzig Schekel die Stunde verlangt, deutlich weniger als der übliche Stundensatz. Sagen wir so, ich habe kein Vermögen gemacht mit diesen Stunden. Es ging mir um Ofer.«
    Avraham schwieg.
    Seev lächelte und fügte hinzu: »Ist alles dem Finanzamt gemeldet.«
    »Wie oft haben Sie ihm Unterricht erteilt?«
    »Einmal die Woche. Vor Klausuren zweimal. Zunächst haben wir an der Grammatik gearbeitet. Darauf wird an seiner Schule herumgeritten, was selbstverständlich ein Fehler ist. Auf diese Weise erlernen Kinder keine Fremdsprache, und ich unterrichte meine Schüler am Städtischen Gymnasium 1 anders. Aber Ofer hat eine schnelle Auffassungsgabe. Er hat methodisch und systematisch gelernt und gute Fortschritte gemacht, weshalb wir bald zu anderen Dingen übergehen konnten: Wortschatz, Konversation, Lesen und Schreiben. Zumindest in meinen Augen sind das die Dinge, auf die es ankommt, und da hat er sich schwerer getan. Möchten Sie, dass ich Ihnen zu erklären versuche, was mir an Ofer aufgefallen ist?«
    Avraham antwortete: »Können Sie, aber zuvor noch eine Frage: Ich meine, Sie hätten der Beamtin, die mit Ihnen gesprochen hat, gesagt, der Unterricht habe bei ihm zu Hause stattgefunden, in seinem Zimmer, ist das richtig?«
    Die Frage rief ungläubiges Erstaunen bei Seev hervor. »Ja. Ihnen habe ich das doch auch gesagt, vor einer Minute ungefähr.«
    Avraham blickte auf die vor ihm verstreut liegenden Notizen. »Richtig, richtig, haben Sie. Sie können fortfahren.«
    Das war der Augenblick, auf den er gewartet hatte. Die Ouvertüre zu dem, was er zu sagen beabsichtigte. Die ersten Sätze waren vorformuliert und geschliffen. Sie waren in seinem Kopf bereits am Freitag entstanden, als er dachte, das Gespräch mit Avraham würde am Sabbat stattfinden, während der Suchaktion, die sie wegen ihm durchführten, ja beinahe für ihn.
    »Ich unterrichte seit fünf Jahren am Städtischen Gymnasium 1«, begann er. »Schüler in Ofers Alter. Elfte, zwölfte Klasse. Ich weiß nicht, ob Sie diese Schule kennen, ein Gymnasium, das viele Kinder aus gutem Hause, wie man so sagt, besuchen. Söhne und Töchter von Schauspielern, Sängern, Dramatikern und Journalisten. Es liegt im Zentrum von Tel Aviv, neben der Cinematheque, falls Sie wissen, wo das ist. An der Schule gibt es einen Schwerpunkt Kino, einen Schwerpunkt Theater und einen Schwerpunkt Tanz, und die meisten dieser Kinder, nicht alle, sind sich sicher, ihnen gehört die Welt. Sie können Englisch, und nicht nur das, sie können alles besser als ihre Lehrer. Mit vierzehn sind sie bereits Filmregisseure. Andere sind Lyriker und Schriftsteller. Sie gründen Bands und arbeiten an einem Album. Ihre Sicherheit beziehen sie nicht aus sich selbst, sondern aus ihrem Umfeld, von ihren Eltern, der Gesellschaft, die ihnen permanent suggeriert, sie könnten alles machen, wären in allem überragend. Ich sage nicht, dass das schlecht ist, obwohl es sich vielleicht für Sie so anhört. Ich beschreibe nur einen Zustand. Ofer kommt aus einer anderen Welt, ist ein anderes Kind. Verstehen Sie, was ich meine? Man muss ihn sich nur für eine Sekunde anschauen, um zu wissen, dass man einen Jungen vor sich hat, der nicht an sich glaubt, der das Gefühl hat, nichts wert zu sein. Aber er ist sensibel. Hat die verletzliche Seele eines Künstlers.«
    Avraham ließ sich immer mehr von seinen Worten vereinnahmen. Genau, wie er es geplant hatte.
    »Was meinen Sie mit verletzlich?«, fragte der Inspektor.
    Seev fuhr fort in seiner Rede: »Egal, was ich zu ihm gesagt habe, ich konnte sofort sehen, wie es ihn innerlich beeinflusst hat. Wenn ich ihm etwas Nettes gesagt habe, ihm ein Kompliment gemacht habe für einen Text oder eine Grammatikübung, dann strahlte er regelrecht von innen. Äußerlich hat er nicht viel preisgegeben. Und im umgekehrten Fall war es ebenso. Wenn er einen

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