Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Fehler gemacht hat oder ich etwas an seinen Arbeiten kritisiert habe, hat ihn das innerlich zerstört. Aber – und das ist mir wichtig zu betonen – nicht etwa, weil er über mich verärgert war oder nicht fähig gewesen wäre, Kritik zu ertragen. Er brach innerlich zusammen aus maßloser Wut auf sich selbst. Als würde er wegen eines dummen Fehlers von einem Gefühl des Versagens und der Unfähigkeit überwältigt. Und Sie müssen verstehen: Diese Selbstzweifel waren überhaupt nicht in seiner tatsächlichen Begabung begründet. Sie kamen einzig und allein durch seine Herkunft. Ich nenne das die soziale Herkunft.«
Avraham machte sich keine Notizen, während Seev sprach, und Seev wusste aus Erfahrung, das war ein Zeichen, dass es ihm gelungen war, das Interesse des Inspektors zu wecken. Wenn die Schüler den Stift weglegten und von ihrem Heft aufblickten, wusste man, dass sie einem zuhörten.
»Sind nicht alle Kinder so?«, fragte Avraham.
Seev schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln und meinte: »Sie haben keine Kinder, oder?«
Avraham schüttelte verneinend den Kopf.
Dieser Polizist hatte ihm gefallen, vom ersten Augenblick an, da er ihn vom Balkonfenster aus gesehen hatte, am Donnerstagmittag. Wie er ruhelos vor dem Haus auf und ab gegangen war. Und Seev hatte gewusst, dass es ihm gelingen würde, die Aufmerksamkeit dieses Mannes auf sich zu ziehen, auch als der ihn noch ignoriert hatte. In Filmen hieß es immer: »Sie hätten gute Freunde werden können, wären die Umstände andere gewesen.« In ihrem Fall war es genau andersherum: Wären sie sich unter anderen Umständen begegnet, hätte sich Seev höchstwahrscheinlich nicht für Avraham interessiert. Sicher hätten sie keine gemeinsamen Gesprächsthemen gehabt. Allein die Umstände, unter denen sie sich begegnet waren, führten sie zusammen und ermöglichten es ihnen, so miteinander zu reden.
»Weiß Gott, nicht alle Kinder sind so«, sagte Seev. »Für die meisten Kinder an der Schule, an der ich unterrichte, sind Komplimente etwas Selbstverständliches, da ihnen ohnehin klar ist, dass sie die Besten sind. Kritisiert man sie, denken sie einfach, man selbst wäre im Irrtum. Nicht sie. Ihnen ist klar, dass der andere falsch liegt. Sie selbst machen nie einen Fehler.«
Avraham war ruhig und gelassen. Seev wusste nicht, wie viel Zeit bereits vergangen war. Vielleicht eine Stunde, vielleicht auch zwei. Avraham schaute nicht mehr auf die Uhr. Er hing an seinen Lippen. Und je mehr Seev erzählte, desto mehr spürte er, dass seine Analysen genauer und tiefgehender wurden, als er es selbst erwartet hatte. Ab und zu machte sich Avraham nun doch ein paar Notizen, und Seev überlegte, dass er ihm gern verraten hätte, wie eng dieser Fall im Grunde genommen mit der Fähigkeit zu schreiben zusammenhing. Er hatte sich vorgenommen, am Abend selbst wieder etwas zu schreiben. In seinem Kopf war der nächste Brief schon so gut wie fertig.
Ein paar Wochen nachdem sie mit den Privatstunden angefangen hatten, hatte Seev begriffen, dass er Ofer nicht nur in Englisch helfen wollte. Er wollte ihm näherkommen und ihm helfen, sich zu öffnen. Und Ofer hatte dies gespürt. Um seinen Wortschatz zu vergrößern, vor allem aber, um ihm andere Dinge zu eröffnen, die er nicht von zu Hause kannte, hatte Seev vorgeschlagen, er solle sich auf Englisch Filme und Fernsehserien ohne Untertitel anschauen. Er hatte ihm eine DVD mit Folgen der ersten Staffel von »House« geliehen und eine Box mit Filmen von Martin Scorsese – »Taxi Driver«, »Wie ein wilder Stier« und »Casino«. Ofer hatte sich alles innerhalb einer Woche angesehen. In der nächsten Nachhilfestunde hatte Seev dann versucht, eine Diskussion über die Filme anzuregen, auf Englisch selbstverständlich. Ofer war befangen gewesen, verlegen. Nicht, weil er Englisch sprechen sollte, sondern weil er noch nie gefragt worden war, was er über einen Kinofilm dachte. Danach hatte Seev ihm eine Auswahl von Hitchcock-Filmen geliehen.
»Ich weiß, das klingt anmaßend, aber ich glaube ganz ehrlich, dass Ofer mit meiner Hilfe das Kino entdeckt hat«, erklärte Seev.
Avraham fragte postwendend zurück: »Was soll das heißen? Glauben Sie, er hatte besonderes Interesse an Filmen?«
Der Inspektor wirkte alarmiert.
»Ja. Wenn Sie mich fragen, ich glaube, Ofer wollte Schauspieler werden. In einer der letzten Stunden haben wir ein Script gelesen, das sie in der Klasse bekommen hatten, und wir haben über Schauspielschulen gesprochen.
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