Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Der erste Satz, den der Belgier zu ihm sagte, nachdem sein Gastgeber ihm erklärt hatte, er werde ihn jetzt zu seinem Hotel in Tel Aviv bringen und ihn am nächsten Tag auf dem Revier über seine laufenden Ermittlungsarbeiten ins Bild setzen, war: »Ausgezeichnet. Wir lassen die Koffer im Hotel und machen uns auf eine kleine Nuttentour.«
Avraham Avraham war überzeugt davon, dass der Mann einen Witz gemacht hatte. Doch dann stellte sich heraus, dass Jean-Marc Karot genau das in Israel vorhatte. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Fortbildungsmaßnahmen und Polizeiaustauschprogramme interessierten ihn nicht. Seinem Gastgeber deutete er an, er könne sich gerne zu einem flotten Dreier dazugesellen.
Avraham Avraham fiel ein, dass er noch nicht überprüft hatte, ob sein Pass überhaupt noch gültig war. War er abgelaufen, würde er die Reise wohl oder übel stornieren müssen.
Es klopfte an der Tür.
8
Er war noch nie auf einem Polizeirevier gewesen.
Natürlich hatte er das Revier des Ayalon-Distrikts schon einige Male von außen gesehen, und der graue Kasten stand in seinen Augen für all das, was an Cholon hässlich war. Ein niedriges, flaches Gebäude. Gedrungen. Als hätte es jemand gestaucht. Von weitem sah es aus wie eine Ansammlung von Baracken, die man miteinander verbunden hatte. Und darum herum nur Sand. Es fehlte jeder Funken von Anmut. Ein typisches Gebäude für eine Stadt, deren Einwohner sich vom Leben nichts anderes erhofften als das bloße Überleben. Michael Rosen hatte sie als einfache Menschen beschrieben, die ein einfaches Leben führten, vielleicht, weil er selbst noch nie dort gewohnt hatte.
Vor Jahren hatte Seev einmal erwogen, zum Revier in der Dizengoff in Tel Aviv zu gehen und den Diebstahl seines Fahrrads aus einem Schuppen im Hof anzuzeigen, war dann aber zu der Einsicht gelangt, dass die Polizei ohnehin nichts unternehmen würde. Diesmal war er vorgeladen. Er drückte die Glastür auf. Links, hinter einem Tresen, stand eine Polizeibeamtin in Uniform. Sie kaute an einer Reiswaffel. Alles machte einen noch armseligeren Eindruck als die Außenstelle des Einwohnermeldeamtes.
Angst verspürte er nicht, war aber angespannt. Wäre er am Morgen des Vortags aufs Revier bestellt worden, hätte er das wohl kaum durchgestanden. Aber die vergangenen Stunden hatten ihn gestärkt. Am Abend, nach dem Workshop und dem Gespräch mit Michael, war er schon frei von Angst gewesen. Fühlte sich befreit genug, um zu schreiben. Er trat an den Tresen und erklärte der Polizistin: »Ich bin um fünf Uhr zu einem Treffen mit Inspektor Avi Avraham bestellt. Wissen Sie, wo er sitzt?«
»Weiß er, dass Sie kommen?«, fragte sie zurück. Als wäre diese Tatsache aus seinen Worten nicht klar ersichtlich.
In einer Hinsicht waren die Polizisten im Vorteil. Er wusste nicht, über welche Informationen genau sie verfügten. Allerdings war er so gut wie sicher, dass sie nicht wussten, wer der anonyme Anrufer gewesen war, trotz seines Versprechers in den Dünen. Anderenfalls hätten sie umgehend bei ihm vor der Tür gestanden. Von dem Brief wussten sie nichts, das stand fest. Als er sich auf den Weg zum Revier gemacht hatte, hatte der Brief noch im Kasten der Familie Sharabi gesteckt, obwohl mehr als ein halber Tag vergangen war und Ofers Vater mindestens zweimal am Briefkasten vorbeigegangen war: in der Nacht, als er ihn vom Balkonfenster aus gesehen hatte, und am Morgen, als sie einander zufällig im Treppenhaus begegnet waren. Ihr Zusammentreffen hatte etwas Tragikomisches gehabt. Sie waren zusammen die Treppe heruntergekommen und hatten über die Suche nach Ofer gesprochen, und weil ihre Unterhaltung andauerte, bis sie das Gebäude verlassen hatten, hatte Ofers Vater den Umschlag nicht bemerken können. Als Seev aus der Schule zurückgekommen war, hatte der Umschlag noch immer im Kasten gesteckt. Ich könnte ihn einfach wieder herausziehen, war ihm durch den Kopf gegangen.
Inspektor Avraham erwartete ihn in einem winzigen, kaum beleuchteten Zimmerchen. Für mehr als einen Schreibtisch und einen Stuhl auf jeder Seite war buchstäblich kein Platz darin. Avraham trug Uniform und stand nicht auf, um ihm die Hand zu reichen.
Also setzte Seev sich und fragte: »Ist das ein Raum, in dem Verhöre durchgeführt werden?«
»Das ist ein Büro«, erwiderte Avraham.
Seevs Vorteil war, dass er in den letzten Tagen ununterbrochen an die Polizisten gedacht hatte. Seit Donnerstag beobachtete er sie bei ihrer Arbeit, vom
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