Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Er wusste nicht einmal, dass es so etwas gibt. Das überstieg seine Vorstellungskraft. Er dachte, Schauspieler oder Künstler wären eine andere Sorte Mensch. Er nahm an, man würde mit dem Talent geboren und er hätte nicht die geringste Chance. Verstehen Sie? Er hat mich dann gefragt, ob man Schauspiel an der Universität studieren kann. Ich habe versucht herauszufinden, ob er gerne Schauspielunterricht nehmen würde, alles auf Englisch selbstverständlich. Erst hat er verneint und dann gemeint, vielleicht doch, ja, aber er sei sich nicht sicher, ob das etwas für ihn wäre. Ich habe ihm erklärt, dass er nicht bis zur Universität warten müsse. Dass es Theaterwerkstätten für Jugendliche gibt, bestimmt auch in Cholon, vielleicht sogar an seiner Schule. Ich hatte sogar überlegt, mit seinen Eltern darüber zu reden. Letztlich habe ich es dann nicht getan, weil es von ihm hätte kommen müssen. Davon abgesehen, sie hätten es ihm, meiner Meinung nach, ohnehin nicht erlaubt.«
»Warum?«, fragte Avraham. »Denken Sie, seine Eltern sind zu streng mit ihm?«
»Nein, nicht, dass Sie mich falsch verstehen«, antwortete Seev. »Ich glaube, sie sind gute Menschen. Beide. Seine Mutter ist eine stille, kluge Frau, die sehr wohl weiß, was sie will, und sein Vater auch. Er hat immer den Eindruck eines einfachen, anständigen Arbeiters auf mich gemacht. Doch sie haben diese künstlerische Seite an Ofer nie erkannt. Haben sie nicht gefördert. Sicher nicht aus Boshaftigkeit, aber das ist einfach nicht ihre Welt. Es musste jemand von außen kommen und erkennen, dass Ofer anders ist, mit einer anderen Seele beschenkt ist, der Seele eines Künstlers – und ihm einen Stoß in diese Richtung geben.«
Inspektor Avraham fragte: »Welchen Eindruck hatten Sie von seinem Zuhause, als Sie dort waren? Von dem Verhältnis zwischen ihm und seinen Eltern? Denken Sie, Ofer war wütend auf seine Eltern?«
»Damit gehen Sie wirklich zu weit. Ich denke, es ist ein sehr warmes Zuhause. Ofer hat eine Schwester mit einer schweren Behinderung, das wissen Sie sicher, und die Eltern kümmern sich mit viel Liebe um sie. Ofer auch. Möglich, dass sie dem Mädchen mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben, wegen ihres Zustands, aber das ist nicht der Punkt. Ich sage bloß, dass die Sharabis diese Seite an Ofer nicht sehen konnten, weil sie ihren Horizont übersteigt. Es gibt nun mal Dinge, die bestimmte Eltern ihren Kindern nicht geben können, Dinge, die jemand von außen erkennen und geben muss.«
»Also hatten Sie nicht den Eindruck, dass die häufige Abwesenheit des Vaters und der Zustand der Schwester für Ofer eine große Belastung darstellten?«
Seev verstand nicht, warum Avraham nicht von dem Thema lassen wollte. Er begriff auch nicht, was Avraham meinte, wenn er von der häufigen Abwesenheit des Vaters sprach. Er entgegnete: »Vielleicht, mag sein. Aber warum fragen Sie das? Denken Sie, Ofer ist verschwunden, weil er es zu Hause nicht mehr ausgehalten hat? Da liegen Sie falsch. Ich werde versuchen, meine Analyse zu präzisieren. Die Sache ist nicht, dass die Eltern ihn nicht gut behandelt hätten, sondern dass sie nicht erkannt haben, dass er anders ist als sie. Das ist etwas anderes. Sie haben nicht gesehen, was ich gesehen habe. Und deshalb war es schade, dass wir mit den Stunden aufgehört haben.«
»Wie lange haben Sie ihm Stunden erteilt? Und warum haben Sie aufgehört?«
»Das ist kurios. Ich glaube, die Stunden wurden eingestellt, gerade weil sie erfolgreich waren. Ofers Zensuren sind besser geworden, und er war einer der Kandidaten, die in eine höhere Lerngruppe aufgenommen werden sollten. Zumindest in meinen Augen wurden sie eingestellt, weil die Eltern nicht mit dem Einfluss, den die Stunden auf Ofer hatten, zurechtkamen. Mir haben sie gesagt, sie würden ihm jetzt für Mathematik einen Nachhilfelehrer suchen. Ich habe ihnen erklärt, ich sei bereit, auch umsonst weiterzumachen, aber davon wollten sie nichts hören. Sie meinten, ohne Bezahlung, das käme nicht in Frage.«
»Und Ofer wollte weitermachen?«
»Ich bin sicher, das wollte er.«
»Gesagt hat er es Ihnen nicht?«
»Er hätte nicht gewagt, irgendetwas zu sagen, das seinen Eltern widersprochen hätte.«
»Und seitdem Sie ihm keine Nachhilfestunden mehr geben, ist auch die Verbindung zwischen Ihnen abgebrochen, und Sie haben ihn nicht mehr gesehen?«
»Natürlich habe ich ihn gesehen, was soll das heißen? Im Haus. Ab und zu. Ich habe ihn gefragt, wie es ihm geht, wie
Weitere Kostenlose Bücher