Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
er vorankommt, habe ihm angeboten, doch mal vorbeizukommen und sich Filme auszuleihen. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass er mir aus dem Weg ging, weil es ihm unangenehm war, dass die Stunden abgesetzt wurden. Ich glaube, es hat ihn beschämt, und er fühlte sich mir gegenüber schuldig. Was er ja gar nicht musste.«
Seev war erschöpft. Als er die Wohnung betrat, wurde ihm klar, dass das Gespräch mit Avraham mehr als zwei Stunden gedauert hatte. Michal hatte mit Ilays Bad auf ihn gewartet. Zu Abend gegessen hatten sie schon. Sie fragte ihn, wie es gewesen sei, und er sagte, ganz gut. Er streckte sich auf dem Sofa im Wohnzimmer aus. Michal legte ihm Ilay in den Arm und ging die blaue Plastikwanne mit Wasser füllen. Ilay hielt eine alte, kaputte Sonnenbrille umklammert und versuchte, sie seinem Vater auf den Kopf zu setzen. Trotz seiner Müdigkeit war Seev glücklich, Ilay im Arm zu halten und dass sie den nächsten Morgen zusammen verbringen würden. Er hatte die blitzenden Augen und den Humor seines Sohnes vermisst.
Michal rief ihm aus dem Badezimmer zu: »Aber was hast du ihm gesagt?«
Und Seev antwortete: »Wie ich es vorgehabt hatte, ich habe ihm über Ofer erzählt. Ich weiß nicht, ob ihm das bei der Ermittlung helfen kann.« Er hasste Gespräche, die – schreiend – von einem Zimmer zum anderen geführt wurden.
In Wahrheit war es das Ende des Treffens gewesen, das die Müdigkeit und die Verwirrung bei ihm ausgelöst hatte. Und außerdem das, was auf dem Nachhauseweg passiert war. Seev hatte erzählt, was er zu sagen vorgehabt hatte, und Avraham hatte weitere Fragen gestellt. Seine Antworten waren immer knapper ausgefallen und Avrahams Fragen ebenso.
Die Phase der Standardfragen eben:
»Hat Ofer Ihnen irgendwann einmal etwas gesagt, aus dem Sie schließen konnten, er wäre in eine Straftat verstrickt oder hätte die Absicht wegzulaufen?«
»Haben Sie etwas Außergewöhnliches an Ofers Verhalten bemerkt, in den Tagen vor seinem Verschwinden?«
»Hat er Ihnen erzählt, wer seine Freunde sind?«
Seev hatte mit wenigen Worten alles verneint. All diese Fragen hatte er mehr oder weniger bereits am Donnerstag beantwortet.
Avraham warf einen flüchtigen Blick auf die vor ihm verstreut liegenden Papiere und sagte dann: »Bei der ersten Befragung, die wir bei Ihnen in der Wohnung durchgeführt haben, hat Ihre Frau ausgesagt … warten Sie, gleich habe ich es … sie hat gesagt, sie habe aus Ofers Wohnung eine Diskussion oder einen Streit gehört und meine, das sei am Abend vor seinem Verschwinden gewesen. Erinnern Sie sich auch daran?«
Er verneinte. Das musste der Fernseher gewesen sein.
»Hören Sie alles, was oben passiert?«
»In der Regel nicht. Man hört, was man in jedem Mehrfamilienhaus so hört. Aber wie ich der Beamtin, die mich befragt hat, bereits gesagt habe: Mir scheint, wir sind momentan diejenigen, die den meisten Lärm im Haus machen.«
Avraham hatte gefragt, ob er noch etwas hinzufügen wolle, und er hatte den Kopf geschüttelt. Und dann hatte Avraham ihn gebeten zu sagen, was Ofer seiner Meinung nach passiert war. »Gehen Sie nach Ihrem Bauchgefühl. Versuchen Sie sich vorzustellen, wo er in diesem Augenblick ist. Jetzt gerade.«
Seev wusste nicht, was er sagen sollte. Wäre die Frage zu Beginn des Gesprächs gestellt worden, hätte er noch die Kraft gehabt, eine Vermutung anzustellen.
»Vorstellen? Wie soll ich mir vorstellen, wo er ist? Ich hoffe nur, ihm ist nichts zugestoßen. Dass er an einem guten Ort ist.«
Er wollte aufstehen. Sein Personalausweis lag noch auf dem Tisch. Er deutete darauf und fragte: »Darf ich?«
Aber Avraham wollte noch etwas wissen: »Als Sie ihm die Nachhilfestunden gegeben haben, waren die Eltern da immer zu Hause? Und wann fand der Unterricht statt?«
»Wie soll ich mich daran jetzt noch erinnern? Ich glaube, Hannah war meistens da.«
»Aber Sie wissen noch, zu welcher Uhrzeit Sie Ofer die Nachhilfestunden erteilt haben?«
»Das war unterschiedlich. In der Regel gegen fünf oder sechs.«
»Haben Sie sich bei irgendeiner Gelegenheit auch woanders getroffen? Ich meine, außerhalb des Hauses?«
Die Andeutung verstörte ihn.
»Nein, warum sollten wir? Verdächtigen Sie mich etwa?«
»Um Gottes willen«, erwiderte Avraham. »Ich versuche nur herauszufinden, ob Sie ihn zufällig irgendwo mal gesehen haben. Ich ermittle. Das ist meine Job.«
Auf dem Heimweg war Seev unschlüssig gewesen, ob er den Brief nicht doch aus dem Kasten holen sollte.
Weitere Kostenlose Bücher