Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Ihrer Rückkehr ist Ihnen nicht aufgefallen, dass irgendein Gegenstand aus der Wohnung verschwunden ist? Etwas, das er mitgenommen haben könnte?«, hakte er nach.
Das Blatt vor ihm war nun mit seinen handschriftlichen Aufzeichnungen bedeckt. Schräge Linien, mit blauem Kugelschreiber geschrieben. Diesmal waren seine Finger sauber geblieben. Er fragte: »Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen möchten?«
Der Vater schüttelte den Kopf.
Bei der Mutter hätte er dies nie gewagt, aber Avraham spürte, dass Rafael Sharabi stark genug war, also bat er: »Versuchen Sie mir zu sagen, nach Ihrem Bauchgefühl, wo meinen Sie, steckt Ofer jetzt, und was könnte ihm passiert sein? Stellen Sie sich vor, wo er sich jetzt genau in diesem Moment aufhält.«
Er hatte nicht erwartet, dass der Vater über Zorn oder Wut reden würde. Vielleicht war das ein Weg, nicht an das Schlimmstmögliche denken zu müssen: sich eine Begegnung vorzustellen. Weiter mit Ofer zu reden, wie er immer mit ihm geredet hatte. War diese Wut irgendwann einmal in Gewalt umgeschlagen? Hatte der Vater Ofer je geschlagen? Abermals wurde sein Blick von den großen Händen des Vaters angezogen.
»Wie geht es Ihrer Frau wirklich?«, fragte er dann.
»Sie träumt schlecht.«, antwortete Rafael Sharabi. »Hat Albträume. Bis gestern hat sie mit all dem ganz allein fertigwerden müssen. Sie hat kaum geschlafen.«
Ilana war bereits über Schärfsteins neue »Ermittlungsrichtung« auf dem Laufenden und sagte, sie halte es für eine gute Idee, den Verdächtigen zur Vernehmung vorzuladen.
Avraham fragte: »Weshalb verdächtig? Und in wessen Augen?«
»In unseren Augen«, erwiderte Ilana. »Ladet ihn einfach vor. Wir wollen jede Möglichkeit abklopfen.«
Von seinem Gespräch mit Rafael Sharabi hingegen, von der Komplettierung des Bildes, zeigte sich Ilana nicht eben beeindruckt. Schärfsteins willkürlicher Ermittlungsvorstoß fand mehr Anklang bei ihr. Also klopfte Avraham an Schärfsteins Tür. Vergebens. Schließlich erreichte er ihn auf dem Handy und fragte, ob er aufs Revier kommen und die Befragung von Seev Avni für ihn übernehmen könne. Schärfstein weigerte sich. Seine Überprüfungen seien ein gutes Stück vorangekommen, er habe wichtige Informationen von der Bewährungshelferin des Typs bekommen, der in Sharabis Viertel wohne. Der Kerl habe sich entgegen der Auflagen in der vergangen Woche nicht bei seiner Bewährungshelferin gemeldet.
Avraham Avraham blieb nichts anderes übrig, als in seinem Büro auf Seev Avni zu warten. Vielleicht hatte Ilana auch recht. Obwohl es ein offenes Gespräch gewesen und das Bild von Ofer sehr viel deutlicher geworden war, konnte er die Beziehung zwischen Rafael Sharabi und seinem Sohn noch immer nicht ganz deuten. Gut, der Vater war viel verreist. Doch nach jeder Passage war er auch mehrere Tage zu Hause. Aber als er ihn gefragt hatte, ob er Ofers Freunde kenne, hatte der Vater mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Ich glaube nicht, dass er viele Freunde hat. Ich weiß es nicht.«
Zwar hatte Rafael Sharabi erzählt, Ofer habe ihm gezeigt, wie man im Internet surft, aber sonst war von Nähe kaum die Rede gewesen, nur von Verantwortung und Verpflichtungen. Die Mutter versorgte ausschließlich die Tochter, und der Vater half, wenn er denn zu Hause war, sich um den jüngeren Sohn zu kümmern. Brachte ihn morgens zum Kindergarten, badete ihn am Abend. Und Ofer?
Avraham Avraham betrachtete die fensterlosen Wände seines Büros, an denen kein einziges Bild hing, und dachte an Igor Kintjew, der in seiner Arrestzelle wartete, bis Anklage gegen ihn erhoben würde. Mit einem Mal verspürte er Lust, nach Brüssel zu fliegen. Das Flugzeug hob vom Ben-Gurion-Flughafen ab und drehte nach Westen. War jetzt schon über dem Meer. Tief unter ihm zogen winzige Frachter dahin.
Nur noch ein paar Tage.
Falls bis dahin nicht noch irgendetwas passierte und er die Reise im letzten Augenblick stornierte.
Was sollte er eine Woche lang in Gesellschaft von Jean-Marc Karot tun?
Es war an einem Nachmittag Ende März gewesen, bei herrlichem Wetter. Der verrückte belgische Polizist, bei dem er in Brüssel zu Gast sein würde, trat im schwarzen Anzug mit Krawatte in die Ankunftshalle des Ben-Gurion-Flughafens. Er war dreißig, vielleicht auch jünger. Baumlang wie ein Basketballspieler und von der Eleganz eines Filmstars. Avraham Avraham stand wie ein Idiot da, in Ausgehuniform und mit seinem Schild, auf dem »Jean-Marc Karot« zu lesen war.
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