Avi Avraham ermittelt 01 - Vermisst
Avrahams letzte Fragen hatten erneut eine diffuse Angst in ihm geweckt.
Der Brief steckte nicht mehr im Kasten.
Seev schaltete die Treppenhausbeleuchtung ein und durchsuchte den kleinen Plastikmülleimer im Eingangsbereich nach dem braunen Umschlag. Danach suchte er abermals die Briefkästen ab.
An jenem Abend schrieb er keinen zweiten Brief. Er fühlte sich wie erschlagen und ging früh ins Bett, konnte aber nicht einschlafen. Er lag auf dem Rücken, starrte an die Decke und dachte an den Geruch, den Michael Rosens Haut verströmte, und an dessen lange Beine und bedauerte, Kafkas »Brief an den Vater« nicht aus der Bibliothek mitgenommen zu haben.
Michal hängte noch Wäsche auf, und als sie ins Schlafzimmer kam, hielt er die Augen geschlossen und tat, als schliefe er schon. Im Bett las sie ein Buch von Eshkol Nevo. Und genau im selben Moment las jemand in der Wohnung über ihm – nur drei oder vier Meter entfernt – seinen Brief. Die Mutter? Oder der Vater?
Seit gestern hatte er versucht, sich ihre Reaktion vorzustellen. Sie waren seine ersten Leser. Lasen sie den Brief jeder für sich oder gemeinsam? Und wie war ihre Antwort? Wie schade, dass er ihren Gesichtsausdruck während des Lesens nicht beobachten konnte. Wie im Schlaf wälzte er sich herum und lag nun Rücken an Rücken mit Michal. Sie war ihm so nah und wusste doch von nichts. Was er bedauerte.
Sein Schlaf war kurz und traumlos, wie immer. Gegen Morgen wachte er auf und eilte in Unterhose und T-Shirt auf den Balkon. Ohne sich die Zähne geputzt zu haben und ohne Tee zu machen. Es dämmerte bereits, aber auf der Straße war es noch vollkommen still, als er den zweiten Brief schrieb.
Avraham Avraham saß in seinem Zimmerchen. Feierabend.
Er hatte keinen Zweifel, dass nach fünf Tagen Ermittlungsarbeit endlich etwas in Bewegung geraten war. In dem Fall und auch in ihm. Es war fast acht, er war hungrig und hatte Durst. Dennoch notierte er sich weitere Fragen, die er Rafael und Hannah Sharabi stellen wollte. Er würde sie zu Seev Avni befragen, das stand fest. Zu den Nachhilfestunden. Warum sie entschieden hatten, damit aufzuhören. Er musste verstehen, was sie von Avni hielten und was Ofer über ihn gedacht hatte. Das Gespräch mit dem Lehrer hatte Unbehagen bei ihm geweckt.
Während er mit Avni zusammengesessen hatte, war Maalul auf einen Sprung ins Revier gekommen und hatte ihm die Mitschrift der Befragungen dagelassen, die er am Morgen in der Schule mit Ofers Freund aus seiner Klasse und mit dem Mädchen vom Gymnasium in Kiryat Sharet durchgeführt hatte. Avraham warf einen Blick darauf. Von ihren gemeinsamen Ermittlungen wusste er, wie penibel Maalul war und jede einzelne Frage und jede Antwort schriftlich festhielt. Auf dem Revier machte der Witz die Runde, auch die Streitigkeiten mit seiner Frau würde Maalul wohl in dieser Form dokumentieren.
Das Mädchen hatte nicht viel gewusst. Ofer hatte das für Freitagabend geplante Treffen nicht abgesagt. Von seinem Verschwinden hatte sie durch ihre Freundin erfahren, die Schwester von Ofers Klassenkameraden.
Schärfstein hatte ihm eine SMS geschickt. Er schrieb, er mache »die Biege nach Hause«. Seine Spur sei unverändert heiß, morgen hoffe er, den Verdächtigen zur Vernehmung vorzuführen. »Ich bin sicher, da ist etwas. Instinkt eben.«
Auch Avraham Avraham hätte »die Biege nach Hause« machen sollen. Doch dort erwartete ihn nichts. Im Fernsehen lief an diesem Abend eine Folge von »Law and Order«, die er mindestens schon fünfmal gesehen und dabei sämtliche Fehler registriert hatte, die den Polizisten bei der Aufklärung des Falls unterlaufen waren. Ohne besonderen Grund las er sich noch einmal die zweite Seite der Mitschrift jenes belanglosen Gesprächs durch, das Eliyahu Maalul mit Litel Aharon geführt hatte, Schülerin der zehnten Klasse am Gymnasium Kiryat Sharet.
Frage:
Wie oft habt ihr miteinander gesprochen?
Antwort:
Ich glaube, zwei Mal.
Frage:
Wann?
Antwort:
Ich weiß nicht, vielleicht am Donnerstag und am Dienstag. Nein, am Montag.
Frage:
Am Donnerstag vor anderthalb Wochen?
Antwort:
Nicht am letzten Donnerstag, an dem davor.
Frage:
Ofer hat dich angerufen?
Antwort:
Ja.
Frage:
Beide Male?
Antwort:
Ja.
Frage:
Und um was ging es bei den Gesprächen?
Antwort:
Er hat mich gefragt, ob ich morgen mit ihm ins Kino will.
Frage:
Das war beim ersten Gespräch? Am Donnerstag?
Antwort:
Ja.
Frage:
Wann hat er angerufen?
Antwort:
Was weiß ich? Ich glaube, abends.
Frage:
Und was hast du
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